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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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beinhalte er sogar manche Vorteile. Danziger lächelte und sagte: »Und nun muss ich gestehen, dass ich eine Idee verfolge, die mir auch nicht mehr aus dem Kopf will: Meine Mutter war 1882 sechzehn Jahre alt. Sie hatte am sechsten Februar Geburtstag, und an diesem Abend ging sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester ins Wallack-Theater. Bei dieser Gelegenheit lernte sie meinen Vater kennen – eine Familienanekdote, die beide immer wieder erzählten. Mein Vater, ein fröhlicher junger Mann, hatte vor dem Theater Apple Mary erblickt, eine wohlbekannte Apfelverkäuferin, die dort ihre Ware anbot, und schenkte ihr, einer Eingebung folgend, ein Fünf-Dollar-Goldstück, das, wie er sagte, ihr und ihm Glück bringen werde. Sie rief: »Dieser Abend wird Ihnen Glück und Segen bringen; vergessen Sie meine Worte nicht!«, und als er das Theaterfoyer betrat, fiel sein Blick auf ein grünes Samtkleid und das Mädchen, das es trug. Er kannte die Leute, mit denen sie und ihre Familie sich unterhielten, gesellte sich zu ihnen, wurde vorgestellt, und einige Jahre später waren sie verheiratet. Sie können sich vorstellen, mit was für einer Versuchung Sie mich jetzt konfrontieren.« Lächelnd nickte ich; Danziger lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Es gab viele Augenblicke, in denen ich nicht mehr den geringsten Glauben an dieses Projekt hatte. Alles schien absurd zu sein, hoffnungslos. Aber wenn es gelingen sollte, Si, wenn Sie wirklich das damalige New York erreichen sollten und unauffällig in einer Ecke der Theaterfoyers stehen, um Zeuge dieses Zusammentreffens zu werden … nun, wenn wir schon ein persönliches Motiv haben, warum dann nicht ein zweites? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Si, über einen Eindruck, ein Porträt von ihnen, wie sie damals waren.« Abrupt stand er auf. »Und nun müssen wir uns beeilen.« Und er fügte hinzu, dass sie schon am nächsten Montag damit anfangen könnten, wenn sie es schafften, das Wochenende durchzuarbeiten; ich nickte, hörte zu und wurde mir mit einem Mal bewusst, dass seltsamerweise schon in dem Augenblick, als mir Danziger die gute Nachricht überbrachte, meine Begeisterung verpufft war, dass der Glaube an das ungewöhnliche Projekt dieses alten Mannes erloschen war, als hätte jemand einen Stöpsel herausgezogen – ein Gefühl, das ich immer und immer wieder verspüren sollte und an das ich mich im Laufe der Zeit, die an jenem Montagmorgen begann, gewöhnte.

6
    Am Sonntag rasierte ich mich zum letzten Mal. Am Montagmorgen standen zehn mit Laken verhüllte Puppen in dem Klassenzimmer, in dem ich mich laut Danziger melden sollte. Ich schritt die Reihe der Puppen ab, betrachtete sie neugierig und war versucht, den Stoff anzuheben und einen Blick darunter zu werfen. Aber noch bevor ich meinen ganzen Mut zusammennehmen konnte, kam ein etwa sechsundzwanzigjähriger hagerer Mann herein und stellte sich vor. Es war Martin Lastvogel, mein Lehrer; wir gaben uns die Hand und beschlossen, dass es vernünftiger wäre, uns zu duzen. Ich saß auf einem der Stühle mit der breiten Armlehne zum Schreiben und betrachtete ihn, wie er da hinter dem Lehrerpult stand und in seiner abgewetzten Aktentasche wühlte; die Riemen waren nach jahrelangem Gebrauch an den Seiten eingerollt, und unterhalb des Schlosses befanden sich die Überreste eines runden Aufklebers, auf dem einst Columbia U gestanden hatte.
    Mein Gott, ist der unscheinbar, dachte ich. Er hatte nicht genug Kinn, um seine Nase auszubalancieren, die groß, scharf geschnitten und viel zu lang wirkte; sein Haar war um etwa drei Wochen zu lang und seit mindestens vier Tagen nicht mehr gekämmt worden. Aber als er aufblickte und lächelte, strahlten seine Augen Intelligenz und Freundlichkeit aus; später fand ich heraus, dass er eine außerordentlich gut aussehende Frau hatte, die ihn wundervoll fand, und dass Martin einundvierzig Jahre alt war.
    »Okay«, sagte er; er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte, einen Packen Karteikarten, die er liebevoll durch die Finger gleiten ließ. Dann setzte er sich auf die Tischkante. »Ich bin eigentlich kein Lehrer, also hake immer nach, wenn ich mich nicht klar äußere oder Unsinn erzähle. Ich bin Forscher, einer der glücklichen Menschen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, dass sie tun, wozu sie Lust haben; in meinem Fall sind das historische Untersuchungen. Frage mich, wie im Paris des vierzehnten Jahrhunderts die Straßen beleuchtet wurden, wenn sie überhaupt beleuchtet waren, oder woraus

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