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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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Geldfälscher und ein gelegentlicher Mörder. Und ich heule bei Vollmond. Aber ich bin nett.«
    »In diesem Fall sind Sie willkommen.« Nun lächelte sie. »Wie ist Ihr Name?«
    »Simon Morley, sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«
    »Ich bin Miss Julia Charbonneau.« Plötzlich war sie reserviert, fast kühl, aber ich wusste, dass sie mich dennoch mochte. »Dieses Haus gehört meiner Großtante, Sie werden sie um sechs beim Abendessen kennenlernen.« Sie wandte sich um, die Hand auf dem Türknauf, um die Tür hinter sich zu schließen, und wollte gehen, als sie plötzlich innehielt. »Da Sie sie vielleicht nicht gewöhnt sind, vergessen Sie nicht, dass das Gaslampen sind«, sie zeigte auf die Lampe an der Decke und auf die Lampe, die an der Wand über dem Bett hing, »und keine Petroleumlampen oder Kerzen. Blasen Sie sie nicht aus; drehen Sie das Licht aus.«
    »Ich werde daran denken.« Sie nickte, blickte sich noch einmal im Zimmer um, fand nichts mehr, was sie noch hinzufügen konnte, und wandte sich zum Gehen. »Miss Charbonneau.« Als sie sich zu mir umdrehte, fiel mir im ersten Augenblick nicht ein, was ich eigentlich hatte sagen wollen. Doch dann hatte ich es. »Bitte entschuldigen Sie meine Unwissenheit. Das ist mein erster Besuch in New York, und ich kenne die Sitten und Gebräuche nicht.«
    »Ich nehme an, sie unterscheiden sich nicht sonderlich von denen anderswo.« Wieder lächelte sie, nun etwas spöttisch. »Jedenfalls machen Sie nicht den Eindruck, als würden Sie lange ein Greenhorn bleiben.« Sie ging und zog die Tür hinter sich zu.
    Vom Fenster aus schaute ich auf den kleinen Gramercy Park hinunter; Bänke, Sträucher und Gras waren mit Schnee bedeckt. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich den Park zuletzt gesehen hatte und ob er immer noch so aussah; wahrscheinlich war es jedoch so. Drei Seiten jedenfalls glichen dem Park meines Jahrhunderts, sie waren umgeben von alten Häusern aus braunem Sandstein, Ziegeln oder grauen Steinen. Nur an der vierten Seite, 21st Street, standen damals noch keine Apartmenthäuser, sondern ebenfalls alte Gebäude. Die Wege des Parks waren freigeschaufelt, in den Rinnsteinen neben den Straßen türmte sich allerdings der Schnee. Er war schwarz gefleckt von Ruß. New York war eine schmutzige Stadt, vor allem im Winter, nahm ich an, wenn Zehntausende Kohle- und Holzherde Ruß in den Himmel schickten. Wenigstens waren sie nicht radioaktiv. Vor jedem Haus befanden sich schwarz lackierte, schmiedeeiserne Pfosten; manche waren von Pferdeköpfen gekrönt, die einen Ring durch die Nase trugen. Vor jedem dieser Pfosten stand ein breiter Steinblock, der das Einsteigen in die Kutsche erleichterte; sie waren alle vom Schnee befreit und bereit, benutzt zu werden. Sonst war der Gramercy Park so, wie ich ihn kannte.
    Eine Bewegung zog meine Aufmerksamkeit auf sich; hinter den kahlen schwarzen Zweigen öffnete sich eine Tür, und eine Frau trat heraus. Sie zog die Tür zu, hielt sich am Geländer fest und betrat vorsichtig – aus Furcht vor Glätte – die Treppe. Auf dem Gehweg dann wandte sie sich nach links und bog an der 20th Street um die Ecke, kam auf mich zu. Ohne die Äste, die den Blick versperrten, sah ich sie deutlicher. Die Schultern waren fröstelnd unter einem dunklen Cape zusammengezogen, die Hände tief in einem prächtigen Pelzmuff verborgen. Und als ich bemerkte, dass die Bänder ihres Hutes unter dem Kinn gebunden waren und ihr langer brauner Cutaway mit einem breiten Band schwarzer Lammwolle abgesetzt war, stieg wiederum beglückend der Gedanke in mir hoch, dass das hier New York City war, im Januar 1882, und ich ein Teil davon.
    In eben diesem Moment begann es zu schneien, winzige Flocken, vereinzelt erst, doch dann, innerhalb kürzester Zeit, die Zeit, die die Frau brauchte, um Irving Place zu erreichen, wo sie aus meinen Augen verschwand, wurden die Flocken dichter. Sie wurden herumgeschleudert, wirbelten und tanzten durch die Luft und blieben schließlich auf den Straßen, Wegen und Steinstufen liegen und setzten sich auf die Mäuler der eisernen Pferdeköpfe.
    Ich fühlte mich auf einmal müde und erschöpft, ich konnte nicht sagen, warum; ich zog mich vom Fenster zurück und legte mich auf das große Bett, sorgsam bedacht, mit meinen Füßen das weiße Laken nicht zu beschmutzen. Ich schloss die Augen und verspürte plötzlich Heimweh, als mir einfiel, dass ich buchstäblich keinen einzigen Menschen auf der gesamten Welt kannte und dass alles, was mir

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