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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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sich dann an eins der Fenster zur Straße und begann die Zeitung zu lesen, die er mitgebracht hatte, den New York Express. Julia war wieder ins Esszimmer zurückgekehrt und deckte den Tisch, und Tante Ada und ich betrachteten eine Reihe von Weihnachtskarten, die auf einem weißen marmornen Sims standen. Auf den Karten, die glänzten wie lackiert, waren lockige kleine Mädchen zu sehen, die als Engelchen herausgeputzt Blumen streuten; einige dünne Nikolausfiguren in rot-weißer Kleidung, die an Mönchskutten mit Kapuze erinnerte, waren zu bewundern; es gab auch einige Scherzkarten; eine von ihnen zeigte zum Beispiel ein Weihnachtsessen, bei dem sich die streitende Familie mit Geschirr und Gläsern bewarf. Noch mehr überraschten mich allerdings die ›Agonie‹-Karten, wie sie sie nannte. Eine zeigte ein weinendes kleines Mädchen inmitten eines Schneesturms, eine andere die Fußspuren eines Kindes, die am Ufer eines Flusses enden; und eine dritte einen toten, auf dem Rücken liegenden Vogel, der seine Krallen in den Himmel streckte, und darüber war geschrieben Horch! Horch! Der Lerche Lied am Himmelstor! Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, bis Tante Ada mir zu Hilfe kam. »Sie sind absurd«, sagte sie, »und natürlich lächerlich, aber sie sind heutzutage nun mal Mode.« Und ich lächelte.

    Ein Mann Mitte dreißig kam nun die Treppe herunter; Tante Ada stellte uns vor. Hier ist Felix’ Aufnahme von ihm. Ein großer schlanker Mann nam. Ein großer schlanker Mann namens Byron Keats Doverman; er trug einen Oberlippenbart, der seitlich in einen üppigen Backenbart überging. Sein Haar war dicht, gewellt und rotbraun.
    Er setzte sich, gratulierte Grier zum Geburtstag und borgte sich einen Teil seiner Zeitung; die Besichtigungstour, die nun fortgesetzt wurde, ignorierte er. Ich inspizierte und bewunderte eine Bambusstaffelei, auf der ein gerahmtes Stillleben mit irgendwelchen Früchten und einem toten Hasen stand. Tante Ada führte mich mit ernstem Gesicht zu einem kleinen Tisch mit Gewürzständern aus Porzellan und betrachtete mich schüchtern, während ich mich über eine große Sepia-Fotografie beugte, die an einer Vase mit Rohr- und Teichkolben lehnte. Es war die Aufnahme einer Frau in einer Trikotage und mit spitzem Filzhut, von dem keck eine lange Feder abstand. Sie hatte den Ellbogen auf eine Marmorsäule gestützt – das Kinn leicht in ihre Hand gestützt. Das Foto zeigte sie im Profil mit einem weit in die Ferne gerichteten Blick. In goldenen Buchstaben war das Bild mit The Jersey Lily untertitelt und in einer Ecke der Name des Fotografen zu lesen, Sarony.
    Das Beste aber hatte sie bis zum Schluss aufgehoben. Neben einem kleinen schönen Harmonium aus dunklem Holz stand auf dem Kamin eine fast ein Meter hohe Figurengruppe aus Gips, die ungefähr fünfzig Kilogramm wiegen musste. Der Titel, in den Sockel der Gruppe eingeritzt, lautete Das Wiegen des Kindes, und die Figuren zeigten einen bärtigen Arzt im Gehrock und eine Hebamme mit Haube, die die Anzeige der Waage ablas, in deren Schale ein weinendes Kind lag. Neben dieser Gipsgruppe befand sich eine durchsichtige Glasglocke, unter der sich ein Blumenbouquet mit fremdartigen Gewächsen befand. Bei näherem Hinschauen erkannte ich, dass es aus ausgeblichenen Federn bestand.
    Tante Ada musste gehen, bevor wir den Rundgang ganz abschließen konnten; das Abendessen war fast fertig, wie ihr Julia zu verstehen gegeben hatte. Aber es gab noch sehr viele andere Dinge zu sehen: Familienporträts, gerahmte Bilder, ein Riesenfarn in einer Ecke bei den Fenstern zur Straße. Ich hatte ihr gesagt, dass ich ihren Salon sehr schätzte, und das entsprach absolut der Wahrheit. Ich glaube, es war der angenehmste Raum, in dem ich mich jemals befunden habe. Während ich dasaß und auf das Abendessen wartete – Felix Grier reichte mir einen Teil seiner Zeitung, die ich jedoch nur kurz durchblätterte –, schaute ich mich weiter in diesem interessanten und übervollen Raum um, lauschte dem Knistern des Kaminfeuers, spürte dessen Wärme auf meinem Gesicht, beobachtete, wie der Wind gelegentlich einen Schneeschauer am Fenster draußen vorbeitrieb, und fühlte mich glücklich und zufrieden.

    Ich saß dem Eingang zugewandt und wartete auf den Mann, dessentwegen ich gekommen war. Schließlich kam Miss Maud Torrence herab und setzte sich zu uns: eine kleine, einfache Frau mit einem klaren Gesicht um die fünfunddreißig. Sie trug einen Rock aus blauem Serge, eine weiße,

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