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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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tun.
    Ich musste mich überwinden; die Tür konnte aufgehen, und jemand konnte herauskommen und mich hier herumlungern sehen. Ich zwang mich dazu, einen Schritt nach vorn zu tun, erklomm die Stufen, und bevor ich wieder umkehren konnte, drückte ich schnell auf den glänzenden Messingknopf in der Türmitte. Auf der anderen Seite ertönte eine Glocke, und ich hörte Schritte. Ich hatte es getan; was auch immer passieren mochte, ich war in diese Zeit eingetreten.
    Ich sah, wie der Knauf sich drehte und die Tür aufging und blickte hoch. Auf der Schwelle stand eine junge Frau Anfang zwanzig, die mich eindringlich musterte. Sie trug ein graues Baumwollkleid und eine lange grüne Schürze. Gegen den Staub hatte sie einen Turban um ihr hochgestecktes Haar gewickelt, in der Hand hielt sie ein Tuch. »Ja?«
    Wieder fühlte ich mich wie in einem Traum – ich stand nur da und starrte sie an. Sie runzelte die Stirn, wollte wieder zu reden anfangen, doch ich sagte schnell: »Ich suche ein Zimmer.«
    »Und Verpflegung? Wir bieten beides an.«
    »Ja, Verpflegung auch.« Ich nickte und versuchte zu lächeln.
    »Nun ja, wir haben zwei Zimmer frei«, sagte sie zweifelnd, als sei sie nicht sicher, ob sie mich nicht wieder loswerden wolle. »Eins nach vorne mit Blick auf den Park für neun Dollar die Woche. Das andere nach hinten; es kostet sieben Dollar und fünfundzwanzig Cents. Beide mit Frühstück und Abendessen.«
    Ich erklärte ihr, dass ich sie gerne ansehen würde, und sie trat zur Seite und bat mich mit einer Handbewegung herein in die schwarz-weiß gekachelte Diele. Sie war tapeziert und wurde dominiert von einem riesigen Hut- und Schirmständer, dessen Mittelteil von einem Spiegel eingenommen wurde. In ihm erhaschte ich, während sie die Tür schloss, einen Blick auf ihren schlanken Nacken und die schwarze Haarsträhne, die unter dem Turban hervorschaute. Nervös wie ich war, lächelte ich; der bloße Nacken eines Mädchens hat etwas Unschuldiges und Anziehendes zugleich. Ich fand, dass sie hübsch war.
    Ich folgte ihr zu einer mit Teppich belegten Treppe am Ende der Diele. Um sie emporsteigen zu können, fasste sie den Rock am Knie und raffte ihn hoch bis zu den Fesseln; ich bemerkte, dass sie schwarze Schuhe mit etwas abgelaufenen Absätzen und dicke Baumwollstrümpfe trug, die blau-weiß geringelt waren. Und mein Blick fiel auf ihre vollen, runden Waden; trotz der nicht eben eleganten Schuhe und Strümpfe gefielen mir ihre Beine. Sie ist tot, vergiss das nicht  – der Gedanke kam mir. Tot und schon seit Jahrzehnten nicht mehr da. Ich schüttelte den Kopf und wollte den Gedanken verscheuchen, da drehte sie sich oben auf dem Treppenabsatz um und wies mir den Weg zu einem Zimmer. Während ich an ihr vorbeiging, lächelte sie und ich sah – sehr nah – dass alles an ihr real war, die leichten Fältchen um die Augenwinkel; die Bewegung ihrer Lider, als sie blinzelte; sie war so jung und voller Leben, dass das eben Gedachte jede Bedeutung verlor.
    Ich sah mich im Zimmer um, während sie an der Schwelle wartete. Es war groß, sauber und hell, mit viel Licht, das von zwei großen hohen Fenstern herrührte. Der Raum war altmodisch möbliert … aber natürlich stimmte das für diese Zeit nicht. Der hölzerne Schaukelstuhl, das geschnitzte Holzbett, der kleine Tisch mit der grünen Fransendecke, der zwischen den beiden Fenstern stand – sie alle waren kaum zehn Jahre alt. Der Teppich, grün und rosa und mit riesigen Rosen- oder Kohlblattmustern verziert, war etwas abgenutzt. Unter einem der Fenster stand ein mit Samt bezogener Sessel, vor den Fenstern hingen Gardinen, die an einigen Stellen ausgebessert waren. Ein Stich in einem Goldrahmen neben der Tür zeigte einen Schäfer, der bis zu den Knien inmitten seiner Schafherde stand; die Tapeten waren von einem wilden braun-grünen Muster. Es gab eine dunkle Kommode mit Porzellanknöpfen und einer weißen Marmorplatte, auf der ein Krug in einer Schüssel stand. Das Badezimmer, das mit anderen Gästen zu teilen sei, befinde sich unten, sagte sie. Ich nickte: »Es gefällt mir. Sehr gut. Ich nehme es, wenn Sie nichts dagegen haben.«
    »Können Sie vielleicht Referenzen vorweisen?«
    »Es tut mir schrecklich leid, das kann ich nicht. Ich bin soeben in New York angekommen und kenne keine Menschenseele. Ausgenommen Sie.« Ich lächelte, doch sie erwiderte mein Lächeln nicht. Sie zögerte, und ich sagte: »Es stimmt schon, ich bin ein ausgebrochener Sträfling, ein

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