Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
hochgeschlossene Bluse und eine kleine goldene Uhr an einer Kette um den Hals. Sie arbeitete in einem Büro, erfuhr ich später, und dies war ihre Arbeitskleidung. Byron Doverman machte uns miteinander bekannt. Sie stand am Fenster und blickte in die Nacht hinaus und ich konnte den Holzbleistift erkennen, der im Knoten ihres streng nach hinten genommenen Haares steckte. Sie fragte mich höflich, ob ich nicht auch glaubte, dass das Wetter in letzter Zeit recht ›wild‹ gewesen war, und ich stimmte ihr zu und erwiderte, zu dieser Jahreszeit könne man in New York nichts anderes erwarten; dann rief Julia, dass das Abendessen fertig sei.
Ich war viel zu aufgeregt, um hungrig zu sein; viel zu aufgeregt, hier an diesem Tisch unter dem leisen Zischen der Gaslichter des Kronleuchters zu sitzen, und außerdem beunruhigt, dass ein Hausgenosse immer noch fehlte. Wir saßen nur zu sechst um den Tisch, ein Stuhl war frei geblieben. Tante Ada, die am oberen Ende saß, zerlegte die Brust eines Truthahns, tat uns auf und reichte uns dann die Teller. Eine Zeit lang schwiegen wir. Nur das Gemurmel des Dankens war zu hören, während wir die Teller weitergaben. Ich blickte mich unauffällig ein wenig um. An den Wänden hing ein halbes Dutzend gerahmter Bilder. Eines davon war ein in Sepia ausgeführtes Brustbild eines ernst dreinschauenden Mannes, jemand aus der Familie, nahm ich an. Die anderen waren Schwarz-Weiß-Stiche des Forum Romanum, ein paar ländliche Szenen und dergleichen. Als wir schließlich mit dem Essen begannen, eröffnete Byron Doverman die Konversation, indem er verkündete, er habe soeben Ben Hur zu Ende gelesen. Julia und Felix waren überrascht, dass er es nicht schon längst beendet hatte. Eine kleine Diskussion über Ben Hur schloss sich an, vor allem über die ›Botschaft‹ des Buches, und Tante Ada fragte mich, ob auch ich es gelesen hätte. Das war nicht der Fall, ich hatte jedoch den Film gesehen, also sagte ich ja und fügte einiges über die Dramatik des Wagenrennens hinzu. Dann erwähnte Byron Doverman beiläufig, dass er den Autor schon einmal gesehen hatte, General Lew Wallace, der an seinem Regiment vorbeigeritten war, als er während des Krieges als Soldat in der Nähe von Washington in einem Feldlager stationiert gewesen sei. Ich starrte über den Tisch hinweg auf diesen frischen, braunhaarigen Mann, dessen Gesicht kaum von Falten durchzogen war, und es dauerte einige Zeit, bis mir klar wurde, dass er den Bürgerkrieg meinte.
»Schon das Neueste von Guiteau gehört?«, fragte Felix die um den Tisch Versammelten. »Jemand hat durch das Fenster seiner Zelle auf ihn geschossen.«
»Oh ja, das stand in den Zeitungen«, sagte Julia.
»Ja, aber nicht dieses Detail – die Geschichte machte heute Nachmittag in der ganzen Stadt die Runde. Die Kugel traf die Wand und nahm dabei die genaue Form von Guiteaus Profil an, so wie der Schurke aussieht, wenn er sich fürchtet.«
Ich blickte mich vorsichtig am Tisch um, aber alle nickten und akzeptierten mit ernster Miene die Geschichte als Tatsache. Dann bemerkte ich, dass Tante Ada mich nach meiner Meinung zu dem Gerichtsurteil fragte. Ich tat, als ob ich überlegte, und versuchte mich an das wenige zu erinnern, was ich von Guiteau wusste. Ich hatte nicht viel über ihn gelesen, wusste aber, dass er für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden war. Ich war nicht hier, um soziale Reformen einzuleiten, also erzählte ich Tante Ada, dass ich sicher sei, er würde gehängt werden, nachdem zweifelsfrei seine Schuld festgestellt worden war.
Am anderen Ende des Tisches sprach Felix über den Eisbruch; sie hatten bei Bordentown, New Jersey, mit Schneiden angefangen, sagte er. Dann redete man ein wenig über den Hochbahn-Skandal, was immer das auch sein mochte. Ich lächelte Julia zu und meinte, der Truthahn sei wunderbar; Truthahnfleisch hatte ich immer als trocken und beinahe geschmacklos in Erinnerung, der hier aber war saftig. Es sei wilder Truthahn, sagte Julia, und als ich überrascht aufblickte und fragte, woher sie ihn hatte, war sie überrascht. »Vom Markt natürlich.« Ich fragte nach und erfuhr, dass dort auch Wachteln, Waldhühner, Rebhühner, junge Zuchttauben, Wildenten, auch Stockenten, Kanvasenten und Tafelenten sowie Hasen und Kaninchen verkauft würden. Ich hatte immer gedacht, dass Hase ein anderes Wort für Kaninchen war, und wollte auch hier nachfragen, unterließ es dann aber; Julia starrte mich mit zusammengekniffenen Augen
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