Zementfasern - Roman
roten Haaren und himmelblauen Augen, die wie kleine Perlen in einer Glaskugel schwammen, damit das Mädchen feststellte, dass alle Stiche straffgezogen waren.
»Ein Baumwollfaden darf nicht schlaff sein.«
»Und die Nähte bleiben sichtbar?«, fragte die junge Schülerin.
»Sieh her.« Mimi zog eine Stange aus einem Bündel Eisendrähte.
»Ist das eine Häkelnadel?«
»Es sind die Stangen von Schirmen, mit so einer Stange wenden wir die Nähte um; siehst du, das Band hat nur einen Schlitz, dann ziehen wir es unter der Schlaufe der Schleife hindurch. Und fertig ist unsere Fliege.«
An Winternachmittagen setzte Mimi bis zu siebzig, achtzig Fliegen zusammen. Jeden Monat gab es ein Mädchen, das sie anlernen musste, und oft war eine darunter, der sie von ihren Erfahrungen als minderjährige Mutter erzählte. Das Warten, die Wehen, das Stillen. Obwohl es andere Frauen, andere Mütter in der Fabrik gab, vertrauten sich alle, die schwanger waren, dem ewigen jungen Mädchen an.
Für das ewige junge Mädchen hegte das Völkchen der Krawattenfabrik widerstreitende Gefühle, Anerkennung und Abneigung, es gab die Partei der Freundinnen, die sie bewunderten, und die Partei der unglücklichen Ehefrauen, die an ihr einen Mut bemerkten, den sie nicht hatten. Mimi aber eroberte sie eine nach der anderen, ohne heimliche Kniffe.
Fünf Minuten, bevor die Glocke zum Arbeitsbeginn schellte, versammelten sich die Frauen in der Fabrikhalle. Zwischen den abgeblätterten blauen Wänden, vor den hintereinander aufgereihten Nähmaschinen auf den Pulten, aber auch in der mit Wachsamkeit erfüllten Luft herrschte eine Atmosphäre wie in der Schule, als müsste jeden Moment ein Lehrer mit strenger Miene auftauchen und einen Vermerk ins Klassenbuch schreiben.
Domenica Orlando war eine der ältesten Frauen in der Fabrik, Abteilungsleiterin, doch ihrerseits unter anderen Abteilungsleitern stehend, alles Männern. Die Fabrik lag ein paar hundert Meter von der Straße entfernt, die ans Meer führte: Mit dem Fahrrad waren es wenige Minuten, wenn man lief, konnte man es in derselben Zeit schaffen und gelangte an eine Spitze der Steilküste hoch über dem Meer.
Es war an einem Sommermorgen im September, der Himmel war klar, die laue Wärme des beginnenden Tages ließ einen glühend heißen Mittag erahnen.
»Heute ist arbeiten verboten«, dachte Mimi. Sie war sich dessen so sicher, dass sie Anna und Teresa eine Wette vorschlug. Spätestens um zwölf Uhr mittags würden sie am Meer sein. Anna und Teresa wechselten einen raschen Blick des Einverständnisses und nahmen Mimis Behauptung als einen ihrer üblichen verrückten Einfälle.
Doch als wenige Minuten später die kreischende Sirene des Feuermelders durch die Flure drang, wussten Teresa und Anna, dass Mimi dahintersteckte.
Kein Feuer, nur zwei verkohlte Stofffetzen zwischen den Stoffmustern. Die Mädchen waren nach draußen gelaufen, es gab einen halben freien Tag für alle, und man wusste, dass Mimi ihre Hand im Spiel hatte, aber niemand würde sie verraten.
Der Zug der Frauen eilte mit raschen Schritten Richtung Küste, er glich einem farbenfrohen Strom, unter ihren Schreien zersplitterte die Stille des Spätsommermorgens. Mimi war in der leeren Fabrik geblieben, in der Halle standen die mit Stoffrollen beladenen Tische, sie sahen aus wie Teile eines verzauberten, komplizierten Räderwerks. Mimi liebte diesen Ort, wenn er verlassen war. Sie hätte nach Hause gehen können, um in Ruhe den Koffer für Arianna zu packen, die nach Rom zurückfahren würde, doch sie blieb lieber noch ein bisschen hier, während ihre Kolleginnen in der Adria schwammen. Jemand inspizierte die leeren Hallen, also kroch sie auf allen Vieren unter einen Tisch, kauerte sich zusammen, machte kein Geräusch, dämpfte ihren Atem und schloss die Augen halb, um noch eine Weile allein zu bleiben und sich den ganzen Frieden zu nehmen.
»Und was ist das?«
»Ich sehe nichts.«
»Das ist Käse, ein Scamorza.«
»Bist du sicher?«
»Was soll ein Scamorza in meinem Rollkoffer?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hast du ihn da reingetan, Mama?«
»Nein.«
»Wer dann?«
»Er wird dir nicht schlecht bekommen.«
»Ja, aber sag es mir vorher. Beim letzten Mal hast du ihn in einer Tasche versteckt. Ich habe ihn erst eine Woche später entdeckt.«
»Aber er ist luftdicht verpackt, macht nichts schmutzig und verdirbt nicht.«
»Mama, den hier könnt ihr selber essen, du und der Onkel. Ich will ihn nicht.«
»Nimm dir doch
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