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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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Lebensjahre als alte Frau in die Hände eines Anwalts zu legen.«
    Mimi dachte genauso, aber sie wollte nicht aufgeben und hielt die Hand ihrer Mutter, um sie davon abzuhalten, schon fortzugehen. Nach den bürokratischen Einzelheiten folgten nun die Geschichten derer, die die Fasern mit der Forke zusammengeharkt hatten, die für das Schleifen zuständig gewesen waren, die die Säcke getragen hatten, und die Geschichten der Frauen all dieser Männer.
    Die Veranstaltung verwandelte sich in ein melancholisches Happening, eine Atmosphäre wie nach der Messe, das Stimmengewirr verebbte, Traurigkeit und Müdigkeit bemächtigten sich der Gemüter.
    »Mama, Großmama, hier ist die Gevatterin Giulia, sie sagt, ihr seid zusammen in der Schweiz gewesen.« Plötzlich tauchte Arianna auf, sprach mit leiser Stimme, um keinen Lärm zu machen; auf den Stufen neben den Sitzen in der Dunkelheit schwankend, führte sie Giulias Hand mit der von Rosanna zusammen.
    Die Haut, die auf Haut traf, war wie ein Kontakt zwischen zwei elektrischen Polen, sprühende Funken, die sich der Physik und einem überhimmlischen Ort gemeinsamer Erfahrungen verdankten.
    Die Zellen erkannten sich wieder.
    Als sie draußen waren, fanden Giulia und Rosanna zueinander und erzählten sich winzige Bruchstücke einer Geschichte, die sich allmählich wieder zusammensetzte. An ihren kleinen Anekdoten ließ sich ihr persönlicher Widerstand gegen die Asbestose erkennen. Auch Giulia war verwitwet, überdies selbst krank, sie erzählte, ihr Mann habe begonnen zu husten, nachdem sie das Haus aus Glas verlassen hatten. Sie kaufte ihm einen Mundschutz, doch je schlechter es ihm ging, desto öfter wurde er in andere Abteilungen versetzt, als hätten leichtere Aufgaben ihn heilen können. Als er zu arbeiten aufhörte, ging auch sein Leben zu Ende, und das Einzige, was von ihm blieb, war der Mundschutz, der die Form seines Gesichts angenommen hatte, ein Fetzen Stoff wie ein kleines Leichentuch, ein belangloses Erinnerungsstück.
    Giulia war erst vor wenigen Monaten aus der Schweiz in den Salento zurückgekehrt. Sie war zurückgekommen, um ihren Mann zu begraben und zu Hause zu sterben, wenige Schritte von ihrem Meer entfernt. Von jenem Abend an würde sie ihre letzten Tage mit der wiedergefundenen Freundin verbringen, die beiden würden sich wiedersehen, zusammen den Rosenkranz beten und zusammen Messen singen.

In die Kirche zu gehen bedeutete auch, ein paar Stunden lang in Biaginos Nähe zu sein, den sie nicht mehr sah, seit er bei Mimi lebte.
    Ein schönes Schauspiel war es nicht, wenn am frühen Abend um sieben Uhr Typen mit fiesen Visagen kleine Flaschen Dreher-Bier aus einer Tüte zogen und dabei aus voller Kehle brüllten: »Mach mir ’ne Infusion! Mach mir ’ne Infusion!«, um sich dann am Flaschenhals festzusaugen und den Inhalt in einem Schluck hinunterzukippen. Unter den Schluckspechten waren so illustre Typen wie Pippo die Bestie, Vito Bruschetta, der unvermeidliche Catone und Biagino alias Celestino, der auf dem Höhepunkt des wieder einmal von einer Bar zur anderen, von einem Glas zum anderen dahingegangenen Tages betäubt auf den Stufen des Pfarrhauses gelandet war. Wenn abends bei sinkender Sonne die Farben von Hellbraun in jenes Kastanienbraun übergingen, das nur der Stein aus den Brüchen des Salento hat, führten wehrlose, von vielen Räuschen gezeichnete Männer mit schwerer Zunge vernünftige Reden, stellten scharfsinnige, von den Alkoholvorräten des Ortes gespeiste Überlegungen an. Männer, die dieselbe Farbe angenommen hatten wie die Steine, auf denen sie ruhten, auf denen sie sich betranken, auf denen sie träumten, Männer, die ein getreuer Abdruck der Landschaft waren, die Heiligen in den Nischen, die Buddhastatuen von Bamyan.
    »Seht euch diese
vagnuni
an, wann nehmt ihr euch endlich eine Frau, Jungchen«, ja, eine Frau, die war im Ort das Allheilmittel. Aber konnten diese Menschen überhaupt lieben?

Jedes Erlebnis erlischt einmal, mit wenigen Ausnahmen verändert sich alles, und eine dieser Ausnahmen ist für wenige Auserwählte die erste Liebe, der erste Kuss und die erste Liebkosung.
    Für Mimi war diese Geste ein Streicheln über die Hand. Ein Streicheln, das zu einem Händedruck wurde, wenn Finger und Knöchel sich verschränkten, wie sie es vor Jahrhunderten mit Ippazio erlebt hatte. Keinem einzigen Mann, mit dem sie zusammen gewesen war, hatte sie erlaubt, sie während der Liebe oder beim Spazierengehen bei der Hand zu nehmen. Für sie

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