Zenjanischer Lotus (German Edition)
beging Sothorn nicht den Fehler, sich auf das erstbeste Dach zu schwingen und zu warten. Auch ihm stand
Leichtsinn nicht gut zu Gesicht.
Er betrat das Geflecht der Lagerhäuser, ging ruhig weiter, bevor er blitzartig abbog und ohne Verzögerung nach dem Schiefer eines Daches griff. Innerhalb eines Atemzugs zog er sich
hoch, kam auf die Füße und rannte trittsicher über die schwarzen Schindeln zum nächsten Gebäude. In seinen Lederstiefeln und dank des heftigen Regens waren seine Schritte
kaum zu hören.
Drei Mal wechselte er das Dach, bevor er sich auf den Bauch fallen ließ und vorsichtig an den Rand des Lagerhauses robbte, um nach seinem Verfolger Ausschau zu halten.
Lange Zeit entdeckte Sothorn ihn nicht, was ihn keineswegs verwunderte. Kein Meuchelmörder, der etwas auf sich hielt, stellte sich in einer solchen Situation gut sichtbar mitten auf den
Pfad und wartete darauf, dass sich ein Wurfdolch in seine Brust grub.
Sothorns Hose sog Wasser auf und klebte ekelerregend an seinen Beinen. Er begann zu frieren, doch er rührte sich nicht vom Fleck. Er wartete und spannte dabei regelmäßig seine
Muskeln in Armen und Beinen an, um sie geschmeidig zu halten.
Eine gute Stunde verstrich, bevor ihn die wechselnden Lichtverhältnisse zum Meer blicken ließen. Mit der Flut zog ein Gewitter auf und färbte die Wolkenberge im Westen
schwefelgelb. In die Schlieren mischten sich die Grautöne der winterlich frühen Dämmerung. Die schlechte Sicht strengte seine Augen an, beeinträchtigt vom Regen und den ersten
Schatten, die sich zwischen den Lagerhäusern ausdehnten. Aus der Ferne hallte Donner und brach sich an den Klippen von Balfere wie das Echo von Kriegstrommeln.
Sothorn lächelte wölfisch, als ihm die huschende Bewegung zwischen dem Rumlager und dem Platz, auf dem im Frühjahr die Segel geflickt wurden, auffiel. Sein Gegner hatte nicht
aufgegeben. Das gefiel ihm. Es machte keinen Spaß, sich mit jemandem zu messen, der seine Fährte bei erster Gelegenheit aufgab.
Den Schatten nicht aus den Augen lassend schob Sothorn die Hände unter seinen gefütterten Umhang und wischte sie sorgfältig trocken. Nasse Hosenbeine und Stiefel waren eins,
glitschige Finger aber stellten ein unnötiges Risiko dar.
Das sachte Pochen in seinen Schultern, den Schmerz auf Höhe seines Magens spürte er kaum, als er mit gesenktem Kopf näher an den Rand des Dachs glitt.
Ein Blitz zuckte über ihn hinweg und erhellte das Halbdunkel. Gerade lange genug, um die Umrisse des Verfolgers ausmachen zu können. Viel konnte er jedoch nicht erkennen. Der Nachteil
der einbrechenden Nacht betraf sie beide.
Sothorn legte den Kopf schief und saugte an seiner Unterlippe, wartete geduldig darauf, dass der Fremde näher kam. Ein Teil von ihm wollte vom Dach springen und die Dolche heben, den Kampf
beginnen. Aber der Jäger in ihm genoss das Warten, die langsame Annäherung und den Nervenkitzel, der ihn überkam.
Der fremde Assassine war gut. Geschmeidig bewegte er sich von Schatten zu Schatten, spähte in alle Richtungen und gab nie seine Deckung auf.
Das Gewitter näherte sich der Küste. Die Blitze kamen in rascher Folge, bis sie einen Teppich aus gleißenden Verästelungen in den Himmel spien. Das Licht brannte auf der
Netzhaut und ließ Sothorn schwarze Punkte sehen. Zwischen den einzelnen Blitzen setzte er innerlich ein Bild seines Gegners zusammen.
Das Gewitter näherte sich der Küste. Die Blitze kamen in rascher Folge, bis sie einen Teppich aus gleißenden Verästelungen in den Himmel spien. Das Licht brannte auf der
Netzhaut und ließ Sothorn schwarze Punkte sehen. Zwischen den einzelnen Blitzen setzte er innerlich ein Bild seines Gegners zusammen.
Sein Atem war zu laut in seinen Ohren. Das Raubtier in ihm erfasste die Gestalt seines Verfolgers. Seine erste Einschätzung in der Kneipe war richtig gewesen. Der Fremde war
größer als er und kräftiger noch dazu. Eine Axt oder ein Zweihandschwert schien ihm besser zu Gesicht zu stehen als Dolche. Seine Bewegungsabläufe waren sicher, aber nicht
sonderlich schnell. Es fehlte ihm an Leichtfüßigkeit und an ...
Sothorn blinzelte, konnte im ersten Moment nicht sagen, was ihn an der Erscheinung verunsicherte. Als der nächste Blitz über ihn hinweg zuckte und einen genaueren Blick auf das Gesicht
des Verfolgers ermöglichte, wurde es ihm bewusst.
Nicht nur, dass der Mann aus dem Norden stammte – die geschwungene Tätowierung auf seinem linken Wangenknochen war
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