Zenjanischer Lotus (German Edition)
und Schutz, das er Sothorn aufgenötigt hatte, hatte er mit sich genommen.
Allein gelassen hatten sie ihn nicht.
Am Vorabend hatte Janis lange Zeit bei ihm gesessen und ihm mit monoton-beruhigender Stimme von den Anfängen der Bruderschaft erzählt. Sein Frühstück hatte Theasa ihm
gebracht. Wieder hatte sie seine Hand gehalten, während er wie ein Blatt im Wind zitterte und keinen Bissen herunter brachte.
Aber sie konnten Geryim nicht ersetzen, weil er zu einer Konstante in Sothorns Leben geworden war. Es ging nicht darum, ob sie sich leiden konnten. Es ging darum, dass er immer da gewesen
war.
Um Sothorn das Erbrochene aus den Mundwinkeln zu wischen, um ihm beim Trinken behilflich zu sein, um ihn zu stützen, wenn er pinkeln musste und kaum auf die Beine kam. Immer dieselben
Hände, die nach ihm griffen, dieselbe Stimme, die mal spöttisch, mal mühsam beherrscht, mal besonnen klang.
Gewöhnung, Stabilität und Verlust derselben.
Es ging keinesfalls darum, dass er Geryim auf einer animalischen Ebene als Teil des Rudels akzeptiert hatte. Niemals.
Die Wanderung der Sonne konnte Sothorn auf seinem Rücken spüren. Ihre Strahlen krochen durch das Fenster und unterteilten seine kleine Welt in Streifen zu grellen Lichts und zu
finsterer Dunkelheit. Der höchste Stand war überschritten und die Sonnenkugel warf ihr Licht von Westen mit schwindender Kraft in sein Quartier, als er eine andere Präsenz in seiner
Nähe spürte. Erahnte. Hörte?
Zum ersten Mal seit dem frühen Morgen hob Sothorn den Kopf und fand es merkwürdig, dass er enttäuscht war, als ihm ein vage vertrautes Gesicht entgegen sah.
Nicht Geryim. Ein anderer Assassine. Wie war noch gleich sein Name? Enes.
Jungenhaft, blond, mit einem zu offenherzigen Gesichtsausdruck für einen Mörder, viel zu jung, um sich durch das schwarze Gewerbe verderben zu lassen. Schmal, gerade ausgewachsen,
schüchtern. So helle Haut, dass man das Blut darunter ausmachen konnte. Blaue Bahnen an einem langen, schlanken Hals.
Das falsche Mannkind, um Sothorn durch diese schwere Zeit zu helfen, wie er glaubte.
„Du solltest dich hinlegen“, begann Enes geschäftig, kaum dass er einen Stapel frischer Kleidung neben Sothorns Lager abgelegt hatte. Ein anderes Mitglied der Bruderschaft, das
Sothorn fremd war, tauchte als Schatten am Rande seines Gesichtsfelds auf und ließ einen Eimer Wasser zurück. „Möchtest du, dass ich dir beim Waschen helfe? Bestimmt nicht,
oder? Ich wollte es jedenfalls nicht.“
Enes sprach leise und behutsam, doch Sothorn hatte Schwierigkeiten, den Sinn seiner Worte zu erfassen.
Waschen? Wozu? Saubere Kleidung? Warum? Was sollte er damit?
Entweder er schaffte es durch den Entzug, ohne sich selbst oder jemand anderen umzubringen oder nicht. Wenn er diese Sache überlebte, konnte er sich über seinen Körpergeruch
Gedanken machen.
Für den Moment war der Aufwand, die Arme zu heben, nach dem Waschtuch zu greifen und es über seine Haut zu führen, viel zu gewaltig.
„Komm“, murmelte Enes, als er keine Antwort erhielt.
Er trat hinter Sothorn und griff ihm mit erstaunlicher Kraft unter die Achseln, zog ihn gegen dessen Willen auf die Füße und schleifte ihn ins Stroh. Wie ein gefällter Baum
ließ Sothorn sich fallen und stürzte leblos auf die Seite. Dass er sich dabei zwei Finger umknickte, spürte er kaum. Innerhalb eines Gewittersturms fiel ein einzelner Lufthauch
nicht auf.
Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen und schwanden erst, als man ihm kühl das Gesicht abrieb. Sothorn wollte sich bedanken, brachte es jedoch nicht über sich. Seine
aufgesprungenen Lippen brannten, als das raue Tuch sie berührte.
„Wo ist Geryim?“, wisperte er lallend und ohne zu wissen, warum diese Frage wichtig genug war, um seinen wunden Hals zu strapazieren.
Weil er sich schämte? Vielleicht. Dabei hatte er wahrlich Schlimmeres getan, als unhöflich zu einem groben Klotz zu sein. Nun, vielleicht nicht ganz so grob.
Enes hielt in seinen Bemühungen inne und strich Sothorn mit einem mitleidigen Lächeln eine verirrte Strähne aus der Stirn: „Oben.“ Nach kurzer Pause, in der er
missmutig schnaubte, fügte er abschätzig hinzu: „Er braucht etwas Ruhe.“
Sothorn schluckte mühsam. Nach Ruhe sehnte er sich auch, und er war eifersüchtig, dass Geryim, dieser blöde Hund, sie bekam und er nicht.
„Und jetzt musst du dran glauben, ja?“
Augenblicklich wurden Enes› Züge weich: „Das macht mir nichts aus. Ich helfe gern, wenn ich
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