Zenjanischer Lotus (German Edition)
im Gesicht seines Gegenübers gespiegelt zu sehen.
Rasch machte er zwei Schritte auf den Wargssolja zu, bevor er heiser raunte: „Versuch es doch.“
Mit diesen Worten schoss seine Faust vorwärts. Sie zielte auf Geryims Kinn, ging ins Leere, da der andere Mann sich blitzschnell zur Seite warf. Sothorns Fingerknöchel streiften
lediglich seinen Hals. Nach dem verfehlten Schlag brodelte es in ihm heißer als je zuvor, doch eine innere Schwelle hielt ihn davon ab, erneut auszuholen. Er wartete.
Geryims Körperhaltung, die scharfe Linie seines Mundes, die Furchen auf seiner Stirn schrien nach Vergeltung. Sothorn hörte seinen Atem unregelmäßig aus seinem Körper
fließen; abgehackt, als wäre er eine weite Strecke gerannt.
Als Geryims Arm hochzuckte, sprang Sothorn zurück und hob beide Fäuste, wartete darauf, dass der Kampf begann, nach dem er sich in diesem Augenblick mehr sehnte als nach dem Lotus.
Für eine sich endlos dehnende Zeitspanne musterten sie sich gegenseitig und wollten ihren Konflikt ein für alle Mal zu Ende bringen. Sothorn freute sich auf die Einschläge, die
ihn erwarteten. Er wollte austeilen und selbst Prügel beziehen, sogar kratzen und beißen, was sonst nicht seine Art war. Er wollte diese Konfrontation so sehr, dass das Bedürfnis
nach ihr einer verdorbenen Form der Lust glich.
Aber dann schlossen Geryims Augen sich, als er langsam und sehr beherrscht den Arm senkte und seine zur Faust geballten Finger löste. Er griff nach der Schüssel. Mit abgewandtem Blick,
als könne er es nicht ertragen, Sothorn ins Gesicht zu sehen, entfernte er sich in Richtung Tür.
Dort angekommen legte er kurz die Stirn gegen das Holz, bevor er beherrscht sagte: „Ich gehe jetzt und lasse dich allein, bevor wir uns gegenseitig umbringen.“
Sothorn war entsetzt, als sich die Tür hinter Geryim schloss. Weil es nicht zum Kampf gekommen war und aus anderen Gründen.
Es war der Mittag des achten Tages, und er war allein, obwohl es in diesen Tagen kaum etwas gab, vor dem er mehr Angst hatte.
Menschlichkeit
Vor. Einatmen. Aushalten. Zurück. Ausatmen. Nicht mehr können. Vor. Einatmen. Schmerzen. Zurück. Ausatmen. Tränen. Vor. Einatmen. Einsamkeit. Zurück. Ausatmen.
Muskelkontraktionen. Vor. Einatmen.
Sothorns Verstand stand still, hatte die Befähigung zum rationalen Denken aufgegeben, um Kraft für den Kampf gegen das eigene Selbst zu sparen.
Überwältigt von Schmerzen und bedrohlichen Empfindungen wie Angst und Schwäche kauerte er in der Mitte seiner Zelle und wiegte sich langsam vor und zurück. Sein Kopf klemmte
zwischen seinen Knien, und manchmal vergaß er das Atmen. Bemerkte erst, dass etwas nicht in Ordnung war, wenn es in seiner Brust brannte und der Schwindel zunahm.
Keine Stimmen mehr in seinem Kopf und niemand an seiner Seite. Allein.
Die schwerste Nacht von allen lag hinter ihm.
Nicht, weil die Nervenschmerzen an Stärke gewonnen hatten – daran hatte er sich fast gewöhnt -, sondern weil seine Seele aufbegehrte und zurückeroberte, was seit einem
Jahrzehnt unter dem Eis seiner Betäubung geschlafen hatte.
Zweifel, Todesangst, Misstrauen, Einsamkeit, Verlust, Erniedrigung, Demütigung und besonders Schuld wuschen als stählerne Hagelkörner Sand aus dem Steinwall, der Sothorns Seele
und Gewissen über all die Jahre verlässlich geschützt hatte.
Er erinnerte sich an Ereignisse, die er vergessen wollte. Sah sich töten. Nicht nur die, für die er einen Auftrag in der Tasche hatte, sondern auch jene, die es nicht verdienten.
Es war nicht lange her, dass er Kinder und eine alte Frau abgeschlachtet hatte. Er konnte sie vor seinem inneren Auge sehen. Die Angst vor ihm hatte sie ganz still werden lassen – nur
der Säugling hatte geschrien.
Er ekelte sich vor sich selbst.
Kein Mensch, nur ein tollwütiger Wolf, den es zur Strecke zu bringen galt. Er verdiente den Strick.
Würde die Bruderschaft ihn gehen lassen? Würden sie ihm gestatten, sich in der nächsten Stadt den Wachen zu stellen, um die gerechte Strafe für seine Vergehen zum empfangen?
Vermutlich nicht. Sie kämpften um sein Leben und selbiges schuldete er ihnen, falls er dieses Martyrium überstand.
Aber es sollte aufhören. Das Nagen in seinem Nacken, das Gefühl, nicht besser als der Schmutz unter seinen Fingernägeln zu sein.
Er stieß sogar Menschen von sich, die ihm helfen wollten. Griff sie an. Biss. Schlug. Spuckte. Beleidigte sie.
Geryim war nicht wiedergekommen. Das vage Gefühl von Sicherheit
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