Zenjanischer Lotus (German Edition)
wachsenden Unkrautes war hochgiftig. Wer immer sich an den winzigen Knospen oder den graugrünen Flechten labte, erstickte innerhalb von wenigen
Stunden an den Lähmungen, die den Körper erfassten.
Ersticken. Verenden. Vergehen.
Sothorn wurde bewusst wie selten zuvor, dass er nicht sterben wollte. Oft hatte er mit den Todesgeistern getanzt, oft ihre federleichten Berührungen gespürt, aber noch nie hatte er
sich so sehr vor ihnen gefürchtet wie jetzt.
Mit einem Schrei auf den Lippen warf Sothorn sich auf die Seite und wollte sich zwei Finger in den Rachen rammen, als Geryim nach seinem Handgelenk griff: „Nicht. Lass es wirken. Wenn du
erbrichst, war alles umsonst.“
„Ich will nicht sterben“, flüsterte Sothorn tonlos, grub seine Fingernägel in die eigenen Handflächen, bis er aus winzigen Halbmonden blutete.
Geryim schien kurzzeitig verwirrt, bis er die gelben Raubvogelaugen aufriss: „Bei Insa, das wirst du auch nicht. Wir haben es verdünnt. Es wird dich lähmen, aber nach einer Weile
wird es dich schlafen lassen. Du glaubst doch nicht, dass wir dich vergiften würden, oder?“
„Warum?“ Sothorn war nur bedingt beruhigt. „Warum kein Lotus? Warum Kriecher?“
Er konnte spüren, dass das Gift seine Wirkung zu entfalten begann. Seine Füße wurden allmählich taub, und Kälte kroch aus dem Stein heraus in seine Knochen.
„Weil all deine Mühen vergebens wären, wenn wir dir Lotus geben würden“, erklärte Geryim bereitwillig. Zum ersten Mal, seitdem sie sich kennengelernt hatten,
wirkte er unsicher: „Lass dich ... gehen. Wehr dich nicht dagegen. Es wird eine Weile dauern. Es wird unangenehm sein, und du wirst schrecklich frieren, aber danach wirst du den Rest des
Tages und der Nacht schlafen.“
Sothorn war nicht einfältig. Kriechergift war gefährlich. Selbst wenn er nicht um die verheerenden Auswirkungen des Giftes gewusst hätte, hätte die Tatsache, dass Geryim
plötzlich über Nacht bleiben wollte, sein Misstrauen geweckt.
Warum hatte er nicht nachgedacht, bevor er sich den Inhalt der Phiole einflößen ließ? Warum hatte er ...
Überrascht runzelte Sothorn die Stirn.
Es war Tage her, dass er fähig gewesen war, einen klaren Gedanken zu fassen. Ja, er begann zu frieren und merkte, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis er sich nicht mehr bewegen
konnte.
Gleichzeitig schwand der Durst nach der Droge aus seinem Geist und hinterließ kristallklare Eindrücke und Übersicht über das Vorgehen in seinem Bauch, in seinem Kopf und in
der Zelle um sich herum.
Mühsam drehte er den Kopf beiseite. In dem Versuch, ihn zu wärmen, begannen seine Muskeln unstet zu zittern. Unkontrolliert huschten seine Hände über die Wolldecke, wollten
danach greifen, aber zu seinem Entsetzen hatte er keine Kraft mehr in den Fingern.
Zu schwach, um Stoff zu heben.
Erneut rollte eine Welle der Angst über ihn hinweg: „Ich kann nicht ...“
Stumm umfasste Geryim die ermattenden Arme und legte sie an Sothorns Seiten, bevor er eine Decke nach der anderen über ihm drapierte.
Erst, als nicht weniger als sechs Bahnen Wolle über Sothorn lagen, hielt der Wargssolja inne: „Wir hätten dich auf mehr als eine Decke legen sollen.“
Der Meinung war Sothorn auch. Ihm wurde kalt und kälter. In ihm rüttelte, schüttelte, bebte, zitterte und schlotterte jedes Nervenende. Von dem Gefühl, dass sich ein Pferd
auf seine Brust gesetzt hatte, ganz zu schweigen.
„Es ... kalt“, stieß er durch blasse Lippen hervor. Verzweifelt wünschte er sich das Fieber zurück, das in den ersten Tagen in ihm gewütet hatte.
Es dauerte nicht lange, bis Sothorn bewegungsunfähig war. Als er bereits glaubte, dass das Gift jeden Moment seine Atmung lähmen müsste, kam die paralysierende Wirkung zum
Erliegen.
Anfangs lauschte er furchtsam in sich hinein, doch als er merkte, dass er nach wie vor atmen konnte, beruhigte er sich. Abgesehen von der grausamen Kälte, fühlte er sich besser. Die
Schmerzen hatten nachgelassen. Dass es zum Schlafen reichen sollte, bezweifelte er jedoch.
Als der Abend seinen Mantel über die Zelle warf, war Sothorn immer noch wach. Geryim, der zuvor entweder steif an seiner Seite gesessen oder ihm in regelmäßigen Abständen
warme Suppe eingeflößt hatte – stets nur einen Schluck, damit nichts in die Lunge rinnen konnte -, bewegte unruhig die Beine.
„Versuch die Augen zu schließen“, schlug er leise vor. „Du wirst nicht ersticken. Ich passe schon auf, falls du
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