Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
mich wohl irren. Ich war so sehr darauf fixiert gewesen, Adam anzurufen, dass ich es womöglich vergessen hatte. Ich richtete meinen bösesten Blick auf dich. »Raus hier!«, schrie ich.
Du bist in unser Zimmer zurückgehumpelt und hast die Tür offen gelassen. Rasch drückte ich Toilettenpapier auf die frischen Schnitte. Für gewöhnlich wartete ich, bis sie aufhörten zu bluten, bevor ich das Badezimmer verließ, aber jetzt legte ich bloß ein wenig Papier darauf, zog die Jeans hoch und ging in unser Schlafzimmer. Ich starrte dich an, forderte dich praktisch heraus, etwas zu dem zu sagen, was du gesehen hattest, damit ich dich wieder anschreien konnte; aber du hast einfach nur auf dem Bett gesessen und gelesen. Du hast überhaupt nichts zu mir gesagt.
Ich habe es immer gehasst, wenn meine Narben verblassten, denn solange ich sie noch sehen konnte, wusste ich, warum ich litt. Ich fragte mich, ob es dir auch leidtat, wenn deine Brüche verheilt waren.
Ich legte mich auf mein Bett. Mein Schenkel pochte.
»Amelia?«, hast du gesagt. »Deckst du mich zu?«
»Wo sind Mom und Dad?« Das musstest du nicht wirklich beantworten. Selbst wenn sie körperlich unten waren, geistig waren sie so weit von uns entfernt, dass sie genauso gut auf dem Mond hätten sein können.
Ich konnte mich noch an die erste Nacht erinnern, in der meine Eltern mich nicht mehr hatten zudecken müssen. Da war ich ungefähr in deinem Alter gewesen. Vor dieser Nacht hatte es immer ein Ritual gegeben: Lampen aus, alles gut zudecken, Kuss auf die Stirn – und die Monster unter dem Bett und hinter dem Schrank hatten sich nicht mehr hervorgetraut. Und dann, eines Tages, habe ich einfach das Buch beiseitegelegt, in dem ich gelesen habe, und die Augen zugemacht. Waren meine Eltern stolz auf dieses selbstständige Kind gewesen? Oder hatten sie das unbestimmte Gefühl gehabt, etwas verloren zu haben?
»Und? Hast du dir die Zähne geputzt?«, fragte ich, doch dann fiel mir ein, dass du das hattest tun wollen, als ich mich gerade geschnitten hatte. »Ach, vergiss die Zähne. Ein Abend macht da schon nichts aus.« Ich stieg aus dem Bett und beugte mich verlegen über dich. »Gute Nacht«, sagte ich und gab dir einen Schmatz auf die Stirn.
»Mom erzählt mir immer eine Geschichte.«
»Dann lass dich von Mom ins Bett bringen«, sagte ich und warf mich wieder auf meine eigene Matratze. »Ich kenne keine Geschichten.«
Kurz hast du geschwiegen. »Wir könnten uns eine ausdenken.«
»Wenn du dann glücklich bist«, seufzte ich.
»Es waren einmal zwei Schwestern. Eine von ihnen war richtig stark und die andere nicht.« Du hast mich angeschaut. »Jetzt bist du dran.«
Ich rollte mit den Augen. »Die starke Schwester ging in den Regen hinaus und erkannte den Grund für ihre Stärke: Sie bestand aus Eisen. Aber es regnete, und so ist sie verrostet. Ende.«
»Nein, denn die Schwester, die nicht so stark war, ist rausgegangen, als es geregnet hat, und hat ihre Schwester ganz fest an sich gedrückt, bis die Sonne wieder schien.«
Als wir noch klein waren, haben wir manchmal im selben Bett geschlafen. Wir sind nie so zu Bett gegangen, doch wenn ich mitten in der Nacht aufgewacht bin, hieltest du mich im Arm. Wärme hat dich angezogen; ich wiederum suchte mir die kühlen Stellen auf meinem Laken. Ich verbrachte Stunden damit, in unserem kleinen Zwillingsbett von dir wegzurücken, aber ich habe nicht einmal daran gedacht, dich wieder in dein eigenes Bett zu verfrachten. Der Nordpol kann einem Magneten nicht entkommen. Der Magnet findet ihn immer.
»Und was ist dann geschehen?«, flüsterte ich, aber du warst bereits eingeschlafen, und ich musste mir mein eigenes Ende ausdenken.
Sean
Nach unausgesprochener Übereinkunft schlief ich in dieser Nacht auf der Couch. Doch »schlafen« konnte man das eigentlich nicht nennen. Ich wälzte mich lediglich herum. Das eine Mal, wo ich doch einnickte, hatte ich einen Albtraum. Ich träumte davon, im Zeugenstand zu stehen und Charlotte anzuschauen, und als ich begann, Guy Bookers Fragen zu beantworten, quollen schwarze Mücken aus meinem Mund.
Wenn Charlotte und ich vergangene Nacht eine Mauer eingerissen hatten, so war sie nun doppelt so dick wieder aufgebaut. Es war schon seltsam, wenn man in seine Frau noch verliebt war, aber nicht wusste, ob man sie behalten wollte. Was würde geschehen, wenn das alles hier vorbei war? Würde ich jemandem vergeben können, der mich und die Menschen, die ich liebte, verletzt hatte, auch
Weitere Kostenlose Bücher