Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
hatte.
Sean
Zu meiner Überraschung erschien Guy Booker kurz nach neun vor unserer Tür, um mir zu sagen, dass der Richter einer eintägigen Aussetzung der Verhandlung zugestimmt hatte. So würde ich also nicht schon morgen früh meine Aussage machen müssen.
»Das ist gut, denn sie ist noch immer im Krankenhaus«, sagte ich zu ihm. »Meine Frau ist bei ihr. Ich bin mit Amelia nach Hause gefahren.«
»Wie geht es Willow?«
»Sie wird bald wieder wohlauf sein. Sie ist eine kleine Kämpfernatur.«
»Nun, ich weiß, wie furchtbar es war, diesen Anruf zu erhalten; aber wissen Sie eigentlich, wie großartig das für unseren Fall ist?«, sagte Booker. »Es ist zu spät zu behaupten, der Prozess habe sie in den Selbstmord getrieben, aber wenn sie heute gestorben wäre …« Er besann sich mitten im Satz, doch nicht mehr rechtzeitig, bevor ich ihn am Kragen packte und gegen die Wand drückte.
»Sprechen Sie ruhig weiter«, knurrte ich.
Das Blut wich aus Bookers Gesicht.
»Sie wollten sagen, wenn sie heute gestorben wäre, wäre es mit der Schadensersatzzahlung vorbei gewesen, Sie gottverdammter Hurensohn, stimmt’s?«
»Wenn … wenn Sie das schon denken, dann auch die Geschworenen«, würgte Booker. »Mehr wollte ich nicht sagen.«
Ich ließ ihn wieder los und kehrte ihm den Rücken zu. »Machen Sie, dass Sie aus meinem Haus kommen.«
Booker war klug genug, wortlos zu verschwinden, aber weniger als eine Minute später klingelte es erneut an der Tür. »Ich habe doch gesagt, Sie sollen sich verpissen«, knurrte ich, aber anstatt Guy Booker stand Piper auf der Veranda.
»Ich … ich geh dann besser mal …«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe jemand anderen erwartet.«
Die Erinnerung an den Kuss im Gericht stieg in uns hoch und ließ uns beide einen Schritt zurückweichen. »Ich muss mit dir sprechen, Sean«, sagte Piper.
»Ich habe dir doch gesagt, vergessen wir …«
»Es geht nicht darum, was heute Nachmittag passiert ist. Es geht um deine Tochter«, sagte Piper. »Ich glaube, sie hat Bulimie.«
»Nein, sie hat OI .«
»Du hast noch eine Tochter, Sean. Ich rede von Amelia.«
Wir unterhielten uns bei weit geöffneter Tür, und wir zitterten beide. Ich trat einen Schritt zurück, um Piper hereinzulassen. Verlegen stand sie im Flur. »Mit Amelia ist alles in Ordnung«, sagte ich.
»Bulimie ist eine Essstörung, und wer darunter leidet, hält das naturgemäß verborgen. Emma hat gehört, wie sie sich nachts erbrochen hat, und Rob ist beim letzten Check-up aufgefallen, dass der Zahnschmelz angegriffen ist – ein Umstand, der durch wiederholtes Erbrechen verursacht werden kann. Schau mal, du kannst mich ruhig dafür hassen, dass ich das zur Sprache bringe, besonders jetzt, aber ich würde lieber Amelias Leben retten, als zu wissen, dass ich die Chance gehabt und aus Feigheit nichts getan habe.«
Ich schaute die Treppe hinauf. Amelia stand unter der Dusche – oder zumindest sollte sie. Sie wollte nicht mehr in das Badezimmer, das ihr euch geteilt hattet; stattdessen benutzte sie jetzt das neben dem Elternschlafzimmer. Obwohl ich in ihrem alle Spuren beseitigt hatte, meinte Amelia, sie bekäme darin einen Rappel.
Als Polizeibeamter hatte ich einen Instinkt für Ärger, und so fiel es mir manchmal schwer, eine klare Grenze zwischen Privatsphäre und Aufsichtspflicht zu ziehen. In meinem Job bekam ich genug Kids zu sehen, die nach außen hin vollkommen brav wirkten, dann aber wegen Diebstahls oder Vandalismus verhaftet wurden – das galt besonders für die Dreizehn- bis Achtzehnjährigen. Manchmal hatte ich – ohne Charlottes Wissen – Amelias Schubladen durchsucht. Ich hatte nie etwas gefunden. Allerdings hatte ich auch nur nach Drogen oder Alkohol gesucht. Eine Essstörung war mir nie in den Sinn gekommen. Ich hätte aber auch nicht gewusst, anhand welcher Indizien die zu erkennen war. »Sie ist doch kein Klappergestell«, sagte ich. »Vielleicht irrt Emma sich ja.«
»Bulimiker hungern sich nicht zu Tode; sie stopfen alles in sich rein und brechen es wieder aus. Da gibt es keinen Gewichtsverlust. Und da ist noch etwas, Sean. In der Schule, auf der Mädchentoilette, hat Emma gesehen, wie Amelia sich geschnitten hat.«
»Geschnitten?«, wiederholte ich.
»Mit einer Rasierklinge«, erwiderte Piper, und plötzlich verstand ich. »Red einfach mal mit ihr, Sean.«
»Was soll ich denn sagen?«, fragte ich, aber Piper war bereits zur Tür raus.
Während Amelia duschte, hörte ich das Wasser
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