Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
praktisch einen Kreis. Der erste Bruch, den ich sah, war der des Oberschenkelknochens, und am Schienbein fand ich einen frischen Riss.
»Und?«, fragte Charlotte glücklich und reckte den Hals nach dem Bildschirm. »Wann sehe ich die Familienjuwelen?«
Ich schluckte und bewegte den Wandler weiter zu deiner Brust hinauf. Fünf verheilende Brüche waren dort zu sehen.
In meinem Kopf drehte sich alles. Den Signalwandler noch in der Hand, beugte ich mich auf meinem Hocker vornüber und ließ den Kopf hängen. »Piper?«, sagte Charlotte und richtete sich auf die Ellbogen auf.
An der Uni hatte ich natürlich auch von Osteogenesis imperfecta gehört, nur einen echten Fall hatte ich noch nie gesehen. Ich erinnerte mich an Bilder von Föten mit Brüchen wie deinen – von Föten, die bei der Geburt oder kurz danach gestorben waren.
»Piper?«, wiederholte Charlotte. »Alles in Ordnung mit dir?«
Ich richtete mich wieder auf und atmete tief durch. »Ja«, sagte ich, und mir drohte die Stimme zu brechen. »Ja, mit mir ist alles in Ordnung, Charlotte … nur mit deiner Tochter nicht.«
Sean
Ich hörte die Worte Osteogenesis imperfecta zum ersten Mal, kurz nachdem Piper Charlotte nach Hause gebracht hatte. Während Charlotte in meinen Armen schluchzte, versuchte ich, den Worten einen Sinn zu entnehmen, mit denen Piper mich bombardierte: Kollagenfehlbildung, Skoliose und weitere skelettale Deformierungen. Sie hatte bereits eine Kollegin angerufen, eine Dr. Del Sol, die im Krankenhaus Hochrisikoschwangerschaften betreute. Um halb acht am nächsten Morgen hatten wir bereits einen Termin für eine weitere Ultraschalluntersuchung.
Ich war gerade von der Arbeit gekommen – einer Baustellenüberprüfung, die geradezu höllisch gewesen war, denn es hatte den ganzen Tag geregnet. Mein Haar war noch feucht vom Duschen, mein T-Shirt klebte mir am Rücken. Amelia saß oben in unserem Schlafzimmer vor dem Fernseher, und ich löffelte gerade aus einem Familienbecher Eis, als Piper und Charlotte das Haus betraten. »Verdammt«, sagte ich. »Auf frischer Tat ertappt.« Dann sah ich, dass Charlotte weinte.
Es erstaunte mich immer wieder, wie ein ganz normaler Tag von einem Augenblick auf den anderen zu einem außergewöhnlichen werden konnte. Nehmen wir zum Beispiel den Fall einer Mutter, die sich umdrehte, um ihrem Kind auf dem Rücksitz ein Spielzeug zu geben, und im nächsten Moment in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt wurde. Oder den Studenten, der gerade ein Bier auf seiner Terrasse trank, als wir vorfuhren, um ihn wegen der Vergewaltigung einer Kommilitonin zu verhaften. Die Liste war endlos. In meinem Job hatte ich solche Situationen schon oft erlebt, nur hatten sie mich selbst noch nie betroffen.
Meine Kehle war wie zugeschnürt. »Wie schlimm ist es?«
Piper wandte den Blick ab. »Ich weiß es nicht.«
»Diese Osteopatho…«
»Osteogenesis imperfecta.«
»Wie heilt man das?«
Charlotte zog sich von mir zurück. Ihr Gesicht war geschwollen, ihre Augen waren rot. »Das kann man nicht heilen«, schluchzte sie.
Nachdem Piper gegangen und Charlotte endlich eingeschlafen war, loggte ich mich ins Internet ein und googelte OI . Es gab vier Typen, plus drei weitere, die erst vor Kurzem identifiziert worden waren; doch nur bei zweien kamen Brüche im Uterus vor. Kinder vom Typ II starben schon vor der Geburt oder kurz danach. Typ- III -Kinder überlebten, erlitten bei der Geburt jedoch Rippenbrüche, die lebensbedrohliche Atemprobleme verursachen konnten. Die Knochenanomalien würden immer schlimmer und schlimmer werden. Es war durchaus möglich, dass Kinder dieses Typs nie laufen lernten.
Weitere Worte erschienen auf dem Bildschirm:
Wurmknochen. Wirbelsäulenverkrümmung. Marknagelung.
Kleinwuchs – einige Patienten werden nie größer als neunzig Zentimeter.
Schwerhörigkeit.
Atemversagen ist die häufigste Todesursache, gefolgt von Unfallverletzungen.
Da OI genetisch bedingt ist, gibt es keine Heilung.
Und …
Wenn OI bereits im Uterus diagnostiziert wird, endet das in der Mehrheit der Fälle mit einem Schwangerschaftsabbruch.
Darunter war das Bild eines toten Babys mit OI vom Typ II zu sehen. Ich konnte den Blick nicht von den verknoteten Beinen und dem verdrehten Leib lösen. Sah unser Baby auch so aus? Und falls ja, wäre es dann nicht besser, wenn es tot geboren werden würde?
Bei diesem Gedanken kniff ich die Augen zu und betete zu Gott, Er möge das überhört haben. Ich würde dich auch
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