Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
hassen mochte, aber ich war die Tochter meiner Mutter.
Piper
September 2007
Ich habe immer gesagt, das Beste an meinem Job sei, dass ich die eigentliche Arbeit gar nicht machen müsse. Die übernahm die werdende Mutter, während ich bloß überwachte, was vor sich ging, und dafür sorgte, dass alles glatt verlief.
»Okay, Lila«, sagte ich und zog die Hand zwischen ihren Beinen hervor. »Wir sind bei zehn Zentimetern. Es ist fast so weit. Jetzt müssen Sie für mich pressen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Machen Sie das«, keuchte sie.
Lila lag nun schon seit neunzehn Stunden in den Wehen. Ich konnte durchaus nachvollziehen, warum sie nun die Fahne weiterreichen wollte. »Du bist ja so wunderschön«, hauchte ihr Mann und hielt ihre Schultern hoch.
»Und du redest Müll«, knurrte Lila, aber bei der nächsten Wehe holte sie Luft und presste aus Leibeskräften. Ich spürte den Kopf des Kindes näher rutschen und hielt die Hand hoch, damit er nicht zu schnell herauskam und das Perineum nicht einriss. »Und noch einmal«, drängte ich. Diesmal sprang der Kopf förmlich heraus, und als Mund und Nase zu sehen waren, saugte ich sie frei. Der übrige Kopf folgte, ich warf die Nabelschnur darüber und drehte das Baby, um die Schultern steuern zu können. Fünf Sekunden später hielt ich das Kind in den Händen. »Es ist ein Junge«, sagte ich, und er verkündete mit einem gesunden Schrei sein Erscheinen.
Die Nabelschnur wurde abgeklemmt, und Lilas Mann schnitt sie durch. »Oh, Liebling«, sagte er und küsste seine Frau auf den Mund.
Ich lächelte und setzte mich wieder vor den Gebärstuhl. Nun kam der weniger zeremonielle Teil des glücklichen Ereignisses: das Warten auf die Plazenta wie auf einen verspäteten Partygast und die Untersuchung von Vagina, Gebärmutterhals und Vulva auf Risse, die eventuell zu behandeln waren. Eine Rektaluntersuchung kam auch noch dazu. Allerdings waren die meisten frischgebackenen Eltern viel zu sehr mit ihrem neuen Familienmitglied beschäftigt, um zu bemerken, dass da unten noch was vor sich ging.
Zehn Minuten später gratulierte ich dem Paar, zog meine Handschuhe aus, wusch mir die Hände und ging hinaus, um den ganzen Papierkram auszufüllen. Ich war kaum zwei Schritte aus dem Kreißsaal raus, als plötzlich ein Mann in Jeans und Polohemd auf mich zutrat. Er sah irgendwie verloren aus, wie ein Vater, der unter all den werdenden Müttern verzweifelt nach seiner Frau suchte. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte ich.
»Sind Sie Dr. Reece? Dr. Piper Reece?«
»Schuldig im Sinne der Anklage.«
Er griff in seine Gesäßtasche und holte etwas hervor, das wie eine gefaltete blaue Broschüre aussah. Die gab er mir. »Danke«, sagte er und machte auf dem Absatz kehrt.
Ich öffnete das Dokument und sah die Worte KLAGE WEGEN UNGEWOLLTER GEBURT AUFGRUND VON GYNÄKOLOGISCHER FEHLDIAGNOSE .
Geburt eines nicht gesunden Kindes.
Das Recht der Eltern auf Wiedergutmachung beruht auf der Fahrlässigkeit der Beklagten, durch die sie den Eltern das Recht genommen hat zu entscheiden, das Kind auf die Welt zu bringen oder dessen Geburt zu verhindern.
Medizinische Fahrlässigkeit.
Die Beklagte hat es versäumt, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Die Kläger haben dadurch Schaden und/oder Verlust erlitten.
Ich war noch nie verklagt worden, obwohl ich wie jeder Gynäkologe natürlich gegen solche Klagen versichert war. Es war reines Glück, dass mich bislang noch niemand vor Gericht gezerrt hatte, das war mir klar gewesen, und auch, dass es früher oder später so weit sein würde. Nur hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich mich persönlich beleidigt fühlen würde.
Selbstverständlich hatte es auch in meinem Berufsleben Tragödien gegeben: tot geborene Babys; Komplikationen während der Geburt, die bei den Müttern zu starken Blutungen und sogar zum Hirntod geführt hatten. Diese Vorfälle trug ich jeden Tag mit mir herum. Ich brauchte keinen Prozess, um immer wieder daran erinnert zu werden und mich zu fragen, was ich anders hätte machen können.
Aber welche Katastrophe hatte nun zu dieser Klage geführt? Erneut überflog ich die Klageschrift und las die Namen der Kläger, die ich beim ersten Mal gar nicht beachtet hatte.
SEAN UND CHARLOTTE O’KEEFE GEGEN PIPER REECE.
Plötzlich konnte ich nichts mehr sehen. Vor meinen Augen war alles in Rot getaucht … und in meinen Ohren pochte es so laut, dass ich die Krankenschwester gar nicht hörte, die fragte, ob es mir nicht gut
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