Zerrissenes Herz (German Edition)
maisfarbenes, seidiges Haar war immer lang gewesen; sie behauptete, zu unsicher zu sein, um es kurz zu tragen. Er behauptete, sie sei zu schön. Das war ein schönes Streitthema. Die Vorstellung, ein Leben lang mit ihr streiten zu können, war es, was ihn davor bewahrte, verrückt zu werden. Und was ihm half, ein Ziel vor Augen zu haben.
Geistig gesund und konzentriert. Das war das Mantra, das er sich wieder und wieder vorsagte. Geistige Gesundheit und Konzentration. In dieser Situation war das unabdingbar.
Ramos hatte einen ganz eigenen Gang, was mit Sicherheit an der Beinverletzung lag, die der Grund dafür gewesen war, dass er sich hatte ergeben müssen. Julian blieb komplett still, als er die Schritte vor seiner Zellentür hörte, tat nichts, um zu zeigen, dass er ihn erkannte. „Gib ihm die zusammen mit seinem Essen in die Zelle“, sagte Ramos.
„Warum sollte man ihm etwas zu lesen geben?“, wollte die Wache wissen.
„Weil es besser ist, seinen Kopf mit Geschichten zu beschäftigen, als ihn den ganzen Tag hier rumliegen und überlegen zu lassen, wie er den Aufstand proben könnte.“
Zusammen mit der Tagesration – das übliche fade, krümelige Arepa-Brot und einige Bohnen in Brühe – kamen zwei zerlesene Taschenbücher auf Englisch. Julian nahm an, dass Ramos die Ironie nicht entgangen war. Das eine war eine Ausgabe von Der Graf von Monte Christo , das andere Alice im Wunderland. Die Seiten beider Bücher waren vergilbt und wellig. Julian verschlang beide Bücher, durchsuchte die Texte nach irgendeiner Nachricht von Ramos. Die einzigen möglichen Hinweise waren ein paar Eselsohren in Alice im Wunderland. „In letzter Zeit war so viel Unglaubliches geschehen, dass Alice anfing zu glauben, dass wirklich nur sehr wenig wirklich unmöglich war …“
Julian konnte nicht sagen, ob diese Passage absichtlich oder per Zufall markiert worden war.
Er las beide Texte obsessiv, saugte jedes Wort in sich auf, lernteganze Passagen auswendig. Jedes Buch war eine ganz bestimmte Form der Fiktion – eine Geschichte über Ungerechtigkeit, Ausdauer, Flucht und Rache. Oberflächlich betrachtet spiegelte der Graf von Monte Christo Julians Situation wider – ein Mann, gefangen genommen und vergessen, versessen darauf, einen Weg zu finden, um zu fliehen.
Dennoch fühlte er sich mehr mit Alice verbunden, die versuchte, einen Weg zurück durch den Kaninchenbau zu finden. Er war ein Fremder in einem fremden Land, das von Menschen bevölkert war, die ihm Böses wollten oder im besten Fall vollkommen indifferent gegenüberstanden. Manche waren so irre wie der verrückte Hutmacher, das Gehirn vom Koks zerfressen, die Leber in aguardiente gekocht, das seiner wörtlichen Übersetzung „Branntwein“ alle Ehre machte.
Edmond Dantès war eine andere Lebenslinie. Beim Lesen der ausgefransten Seiten des Grafen von Monte Christo lernte Julian, dass mehr Macht in der Geduld lag als im Jähzorn. Er hatte sich noch nie vergessen, egal wie sehr sie ihn gefoltert hatten. Der arme Dantès musste siebzehn Jahre auf seinen Erfolg warten. Das war eine andere Sache, die Julian gelernt hatte – es konnte immer noch schlimmer kommen. Immer.
Alice war für ihn rätselhafter – vielleicht, weil sie weiblich war. Eine andere Passage, die vielleicht oder auch nicht durch einen Riss in der Seite markiert worden war, gab ihm viel, worüber er nachdenken konnte: „Genau in diesem Moment verspürte Alice ein seltsames Gefühl, das sie ganz schön verwirrte, bis sie herausfand, was es war. Sie fing an, wieder größer zu werden, und sie dachte erst, sie würde aufstehen und das Gericht verlassen. Aber dann dachte sie noch einmal darüber nach und entschied, so lange zu bleiben, wie ausreichend Platz für sie war.“
22. KAPITEL
W ow, sieh dich an!“ Sonnet rauschte in Daisys Haus und fand ihre Freundin im Esszimmer, wo sie gerade dabei war, kastanienbraune Beize auf die Sockelleisten aufzutragen.
„Lieber nicht, danke.“ Daisy blies sich ein paar Strähnen, die ihr vor die Augen gefallen waren, aus dem Gesicht. Der Friseurbesuch war schon lange überfällig.
„Du wirkst so … häuslich“, fuhr Sonnet fort. „Mrs Fröhlich-bei-der-Hausarbeit.“
„Ja, genau, das bin ich.“ Dieser Begriff war in einem altmodischen Wirtschaftsbuch vorgekommen, mit dem sie in der Schule hatten arbeiten müssen. Offensichtlich waren die Autoren der Meinung gewesen, eine untätige Hausfrau sei des Teufels, und hatten ihren Lesern daher geraten, sie auf
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