Zerrissenes Herz (German Edition)
verstecken. Er wusste nicht, woher diese Fähigkeit kam, aber er nutzte sie jeden Moment. Er tat so, als hätte er nur rudimentäre Kenntnisse der spanischen Sprache. Als ihm ein dickes Stück Gummi in den Mund geschoben wurde, zeigte er keinerlei Anzeichen dafür, dass er wusste, wo der nächste Stromschlag ihn ereilen würde.
Er zog sich in seine Gedanken zurück, eine Technik, die er während der gestellten Verhöre in seiner Ausbildung perfektioniert hatte. Er lockte sich zu den ganz frühen Tagen seines Lebens zurück, als er noch mit seinem Junggesellenvater in New Orleans gelebt hatte. Sein Dad war ein brillanter Mann gewesen, dessen Talent weit über das hinausging, was seine bescheidene Herkunft hatte vermuten lassen. Er hatte Julian auf seine leicht abwesende, aber ernsthafte Art geliebt und ihm die Grundlagen der Raketenwissenschaft beigebracht. Es war gewissermaßen ihr gemeinsames Hobby gewesen.
Julian erinnerte sich an den exakten Augenblick, in dem er gemerkt hatte, dass Liebe ihn mutig machte. Er war vielleicht sechsJahre alt gewesen. Es war ein schwüler Sommertag gewesen.
Die in die Fenster eingebauten Klimaanlagen ihres Holzhauses bliesen kühle, leicht muffig riechende Luft in die Räume. Ihr Haus war nur klein, quetschte sich zwischen zwei Villen auf der Coralie Street, die in angenehmer Nähe zur Universität lag. Sein Dad war in dem stets etwas unordentlichen Esszimmer – das sie nie als solches benutzten – und zerbrach sich über irgendeine Theorie oder ein Problem den Kopf.
Julian, dem heiß und langweilig war, beschloss, bis an die Spitze des Feigenbaums zu klettern, der im hinteren Garten stand, weil er dort die reifsten, süßesten Früchte finden konnte. Das Klettern machte ihm einen Höllenspaß, und er krabbelte von Ast zu Ast, bis er sich fühlte, als befände er sich auf dem Dach der Welt.
Dort oben in dem Baum zu sein war für ihn wie eine Offenbarung. Die Welt unter ihm erschien ihm nicht mehr so groß, kompliziert und verwirrend. Stattdessen fand er sie faszinierend. Sie war mit einem Mal etwas, das er verstehen und wo er hineinpassen konnte wie ein Puzzleteil. Alles rückte wieder in die richtige Perspektive. Kein Wunder, dass Vögel aus reiner Freude in den Himmel aufzusteigen schienen. Wer wollte nicht so hoch wie möglich am Himmel sein?
„Dad!“, rief er und hoffte, dass sein Vater ihn trotz der lauten und tropfenden Klimaanlage im Esszimmer hören konnte. „Hey, Dad, guck mal, wie hoch ich bin!“
Der Ast, auf dem er saß, bog sich, brach aber nicht. Er ließ Julian vielmehr auf eine beinahe elegante Art fallen. Julian packte einen anderen Ast, um sich festzuhalten, und schaffte es, ihn mit einer Hand zu umklammern. Kurz hing er so, erstaunt, wie weit es bis zum Boden war, aber auch seltsam aufgeregt ob der Gefahr, in der er sich befand. Er kämpfte darum, hängen zu bleiben, obwohl er wusste, dass er diese Schlacht verlieren würde. Die Schwerkraft würde das tun, was sie immer tat. Wenn der eigene Vater ein weltbekannter Wissenschaftler war, war einem das Verständnis für dieses Phänomen geradezu angeboren.
Die glatte Rinde bot keinen Halt, und schließlich ließ der Baum ihn los. In den Sekunden, die er in der Luft war, fühlte er sich vollkommen schwerelos. Was allerdings brüsk vorbei war, als er durch einige kleinere Äste sauste und dann mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden landete.
Er erinnerte sich nicht daran, im Fallen geschrien zu haben, aber irgendetwas musste seinen Dad alarmiert haben. Vielleicht hatte sein langer Sturz durch die Äste des knorrigen alten Baumes die Aufmerksamkeit seines Vaters geweckt.
Beim Aufprall wurde jegliche Luft aus Julians Lungen gedrückt. Den nächsten Atemzug musste er auch noch ausfallen lassen. Stumm und die Augen vor Panik weit aufgerissen, schaute er auf und sah seinen Vater über sich stehen, so beeindruckend wie der Herrgott persönlich. Julians Blick wurde klar, und er sah die Angst, die sich wie ein weißer Rand um die Augen seines Vaters gelegt hatte.
Sein Vater wich ihm nicht von der Seite, als die Sanitäter kamen. Er hatte mehr mit Julian gesprochen als je zuvor, hatte ihn getröstet, beruhigt, ihm versichert, dass er ihn liebte, hatte gebetet, dass Julian nicht schwer verletzt war.
In der Notaufnahme war Julian gründlich untersucht worden. Jemand hatte ihm mit Taschenlampen in die Augen geleuchtet, ihm Kopfhörer aufgesetzt, um sein Hörvermögen zu überprüfen, ihn mit Stethoskop und
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