Zerrissenes Herz (German Edition)
brachte er genug Mut auf, um Daisy anzurufen. Er wollte ihre Stimme hören und ihr persönlich von dem Brief erzählen. Der Anruf würde zwar weitere Kosten verursachen, die sie sich nicht leisten konnten, aber das war ihm egal.
Gleich nach dem ersten Klingeln meldete Daisy sich. Das tat sie immer, wenn er sie auf dem Handy anrief. Aber er wusstenicht, ob er der Einzige war, der mit dieser Vorwahl bei ihr anrief.
„Hey“, sagte sie.
„Selber hey. Störe ich gerade?“ Er dachte an den Zeitunterschied von drei Stunden. Im Hintergrund hörte er leise Musik.
„Nein, alles gut.“ Während sie noch zögerte, erkannte er das Lied. Es war „Season of Loving“ von den Zombies. Er hasste den Song.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“ Es war komisch, er hatte sie seit dem letzten Sommer nicht gesehen, und doch klang ihr „Nein, alles gut“ in seinen Ohren irgendwie falsch. „Was ist los?“, wollte er wissen.
Sie stellte die Musik ab. „Olivia hat mich gebeten, zu ihrer Hochzeit zu kommen.“
„Das ist doch cool, oder?“ Julian würde auch auf der Hochzeit sein, weil sein Bruder der Bräutigam war. Er war noch nie auf einer Hochzeit gewesen, aber er konnte es kaum erwarten – weil sie im August im Camp Kioga stattfinden würde. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er in seinen ROTC-Plan schauen musste, um zu klären, ob er an dem Tag überhaupt freihaben konnte.
„Das ist gar nicht cool.“ Daisys Stimme klang irgendwie dünn. „Hör mal, Julian, ich überlege schon die ganze Zeit, wie ich dir das sagen soll. Mein Gott, es ist echt schwer.“
Seine Gedanken rasten. War sie krank? Hatte sie die Nase voll und wollte ihn nicht mehr sehen? Wollte sie nicht mehr, dass er sie anrief oder sich sonst wie bei ihr meldete? Hatte sie, um Himmels willen, womöglich einen Freund?
„Sag es einfach!“
„Ich will nicht, dass du mich hasst.“
„Ich könnte dich niemals hassen. Ich hasse niemanden.“ Nicht einmal den betrunkenen Autofahrer, der seinen Vater überfahren hatte. Julian hatte ihn im Gerichtssaal gesehen. Der Mann hatte so heftig geweint, dass er nicht hatte aufstehen können. Julian hatte keinen Hass verspürt. Nur ein unglaublich hohles Nichts. „Ehrlich, Daze.“ Er benutzte ihren Spitznamen. „Du kannst mir alles sagen.“
„Ich hasse mich.“ Sie sprach ganz leise, und ihr zitterte die Stimme.
Sein Telefon hatte noch eine Schnur. Deshalb war er dazu verdammt, in dem kleinen Radius vor dem Fenster hin- und herzulaufen. Er blickte in den farblosen Februartag hinaus. Unten auf dem Parkplatz sah er Rojelios Frau, die mehrere Einkaufstüten ins Haus trug. Normalerweise würde Julian hinunterlaufen und ihr zur Hand gehen. Sie hatte eine ganze Bande Kinder – er wusste nicht, wie viele genau –, die immer hungrig zu sein schienen. Die arme Frau war den ganzen Tag damit beschäftigt, zu arbeiten, einzukaufen und Essen zuzubereiten.
„Daisy, jetzt erzähl schon, was los ist.“
„Ich hab’s vermasselt. Ich habe es total verbockt.“ Sie klang zerbrechlich, die Wörter wie Glasscherben, auch wenn er nicht wusste, wovon sie sprach. Was immer es auch war, er wollte bei ihr sein, wünschte sich, sie in die Arme nehmen zu können, den Duft ihres Haars einzuatmen und ihr zu versichern, dass alles wieder gut würde.
Im Geiste ging er alle Möglichkeiten durch. Hatte sie wieder angefangen zu rauchen? Gab es Schwierigkeiten in der Schule? Er wartete. Sie wusste, dass er da war. Er musste sie nicht weiter drängen.
„Julian“, sagte sie schließlich mit brechender Stimme. „Ich werde ein Kind bekommen. Es ist im Sommer fällig.“
Das kam so unerwartet, dass ihm nichts einfiel, was er hätte sagen können. Er starrte einfach nur weiter auf Rojelios Frau, die gerade den zweiten Schwung Einkaufstüten aus dem Wagen holte. Daisy Bellamy? Ein Baby?
Auf Julians Schule waren schwangere Mädchen nichts Ungewöhnliches, aber Daisy ? Sie sollte ein privilegiertes Leben führen, in dem nichts Schlimmes passierte. Sie sollte seine Freundin sein. Ja, sicher, sie hatten sich in jenem Sommer verabschiedet, ohne einander etwas zu versprechen. Aber das war doch eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihnen.
Das hatte zumindest er gedacht.
„Julian? Bist du noch da?“
„Ja.“ Er fühlte sich, als hätte ihm jemand in den Magen geboxt.
„Ich komme mir so dumm vor.“ Sie weinte jetzt und klang verängstigt. „Und es kann nicht rückgängig gemacht werden. Der Junge … es ist jemand aus meiner Schule in
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