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Zerrissenes Herz (German Edition)

Zerrissenes Herz (German Edition)

Titel: Zerrissenes Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Wiggs
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dass der scharfe, reife Geruch der Schlachthöfe dick in der Luft hing und jeden Atemzug beeinträchtigte. Julian neigte dazu, sich in der Bücherei zu verschanzen, Hausaufgaben zu machen, zu lesen … und zu träumen. Der Sommer, den er am Willow Lake verbracht hatte, fühlte sich an wie ein ferner Traum, verschleiert und surreal. Er war wie aus einer anderen Welt, einer Welt, die es nur in Büchern gab.
    Um sicherzustellen, dass die anderen Kids an der Highschool ihn nicht ärgerten, musste Julian so tun, als würde er keine Bücher mögen. Unter seinen Freunden war es extrem uncool, wenn man gerne las und gut in der Schule war. Also behielt er seinenAppetit auf Geschichten für sich. Für ihn waren Bücher Freunde und Lehrer. Sie hielten ihn davon ab, sich allein zu fühlen, und er lernte aus ihnen alles Mögliche. Zum Beispiel, was eine Halbwaise war. Aus einem Buch von Charles Dickens hatte Julian gelernt, dass eine Halbwaise ein Kind war, das ein Elternteil verloren hatte. Damit konnte er sich identifizieren. Nachdem sein Vater gestorben war, gehörte Julian nun zu den vielen Kindern mit alleinerziehenden Müttern.
    Seine Mutter hatte nie Mutter sein wollen. Das hatte sie ihm selbst gesagt und – in einem Moment übertriebener Offenheit – erklärt, dass er auf einer Aeronautenkonferenz in Niagara Falls empfangen worden war; das Ergebnis eines One-Night-Stands. Sein Vater war einer der Hauptsprecher auf der Konferenz gewesen. Seine Mutter eine Stripteasetänzerin im Nachtklub des Konferenzhotels.
    Neun Monate später tauchte Julian auf. Seine Mutter hatte ihn nur zu gerne seinem Vater überlassen. Sie waren zusammen sehr glücklich gewesen – bis sein Vater gestorben war. Deshalb verbrachte Julian die Highschooljahre bei seiner Mutter, die keine Ahnung zu haben schien, was sie mit ihm anfangen sollte.
    Er hatte kein Handy. Er war wohl so ungefähr der letzte Mensch auf Erden, der keins hatte. So arm waren seine Mom und er. Sie arbeitete zwar wieder, und er hatte einen Nebenjob bei einem Autohändler, wo er Reifen und Öl wechselte. Einige Kunden gaben ihm Trinkgeld, allerdings nie die Reichen mit den heißen Autos, sondern eher die Arbeiter mit ihren Chevys und Pick-ups. Seine Mom hatte ein Handy, das sie, wie sie sagte, brauchte, falls sie wegen eines Schauspielangebots angerufen würde. Aber das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnten, war eine weitere Rechnung. Sogar ihr Telefonanschluss war die allerbilligste Variante ohne integrierten Anrufbeantworter.
    In der Bücherei konnte er im Internet surfen und seine kostenlose E-Mail-Adresse nutzen. Schnell fand er die ROTC-Seite und benutzte das Log-in, das ihm mit dem Willkommenspaket zugesendet worden war. Er fühlte sich, als wäre er Mitglied in einemGeheimklub geworden. Dann schaute er schnell in sein E-Mail-Account, wo er den Kontakt zu Daisy hielt. Sie waren beide nicht sonderlich gut darin, zu schreiben, und auch heute gab es keine E-Mail von ihr. Er hatte seine Schule und seinen Job, sie war erst kürzlich von New York City in das kleine Städtchen Avalon gezogen, um dort bei ihrem Dad zu wohnen. Sie sagte, ihre Familiensituation wäre ein wenig seltsam, da ihre Eltern sich gerade getrennt hatten. Sie tat ihm leid, aber er konnte ihr keinen guten Rat geben. Seine Eltern hatten nie zusammengelebt, und in gewisser Hinsicht war das vielleicht sogar besser. Denn somit hatte es erst gar keine Trennung gegeben, an die sich alle Beteiligten hätten gewöhnen müssen.
    Doch E-Mails waren begrenzt. Er wollte Daisy anrufen und ihr von seinen Neuigkeiten berichten. Und ihr danken, weil sie ihn daran erinnert hatte, dass das College für ihn nicht völlig außer Reichweite lag. Der Vorschlag, den sie ihm letzten Sommer unterbreitet hatte, hatte bei Julian gefruchtet. Es war nicht unmöglich, dass er das Leben führte, von dem er bisher nur geträumt hatte. Mit einer beinahe beiläufig dahingesagten Bemerkung hatte sie ihm den goldenen Schlüssel überreicht.
    Die Wohnung, die er sich mit seiner Mutter teilte, lag in einem in deprimierend schlechtem mexikanischen Stil errichteten Gebäude, das von einer von Unkraut überwucherten Freifläche und einem Parkplatz mit rissigem Asphalt umgeben war. Er schloss die Tür auf; seine Mutter war nicht da. Wenn sie keine Arbeit hatte, verbrachte sie die meiste Zeit im Bus in die Stadt, um zu verschiedenen Treffen zu gehen und zu „netzwerken“, wie sie es nannte.
    Julian tigerte vor dem Telefon auf und ab. Irgendwann

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