Zerrissenes Herz (German Edition)
Außerdem gehörte noch ein altes Bootshaus mit Wohnungen im ersten Stock und einem breiten Steg dazu. Und mitten auf der grünen Wiese stand ein entzückender Pavillon. Alles in allem sah es aus wie aus einem Märchen, versetzte die Menschen an einen anderen Ort und in eine andere Zeit. Ein hervorragender Hintergrund für Hochzeitsfotos.
Das idyllische Setting würde helfen, die Fotos von Brautzilla so schön aussehen zu lassen wie Erinnerungen, die überhaupt nicht passiert waren.
Genauso sah Daisy inzwischen auch Julian: eine perfekte Erinnerung an etwas, das nie wirklich passiert war.
Anfangs war sie so in ihrer Trauer verloren gewesen, dass sie sich wie von der Erde losgelöst gefühlt hatte. Es war wie ein Labyrinth in völliger Dunkelheit; sie fand den Weg hinaus nicht mehr. Wenn sie versuchte, sich den Weg zu ertasten, wurde sie von Dornen gestochen und schlugen überhängende Zweige nach ihr. In den allerersten Tagen war sie sicher gewesen, auch bald zu sterben. Ihr war das Herz herausgerissen worden. Es war physisch unmöglich, ohne Herz zu leben.
Diese Tage, in denen ihre Seele erfroren war, lagen hinter ihr. Durch reine Willenskraft und Entschlossenheit hatte sie sich ihren Weg aus der Dunkelheit freigekämpft, wie eine Wildkatze, die sich aus der Stahlfalle befreit, indem sie sich die eigene Pfote abbeißt. Daisy hatte sich im Laufe dieses Prozesses selbst Schaden zugefügt, aber sie lebte. Sie hatte Charlie und ihre Arbeit, ihre Familie und Freunde.
Sich von der Trauer und dem Schock zu erholen war ein täglicher, manchmal stündlicher Kampf. Und immer noch hatte sie ihn nicht ganz gewonnen. Sie wachte manchmal noch mitten inder Nacht so heftig weinend auf, dass sie das Gesicht im Kissen vergraben musste, um Charlie nicht aufzuwecken.
Nach und nach schwand Julian aus Charlies Erinnerung. Er flackerte nur ab und zu mal auf, wie ein Schatten im Wind. Charlie erinnerte sich noch an den Namen und die Tatsache, dass er sich nicht getraut hatte, an dem Tag gemeinsam mit ihm vom Steg zu springen. Das gerahmte Foto, das sie an dem Tag mit Selbstauslöser gemacht hatte – sie standen, die Arme umeinander geschlungen, vor dem in der Sonne glitzernden See –, stand auf ihrem Nachttisch, auch wenn es ihr jedes Mal das Herz zerriss, es anzusehen. Sie waren an dem Tag so glücklich gewesen, so verliebt. Die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft glitzerte in ihren Augen, leuchtete in ihrem Lächeln. Manchmal gab Daisy sich der Fantasie hin, in dieses Foto hineingehen zu können, wo sie die Wärme der Sonne auf seiner Haut fühlte und seine Stimme hörte, wenn er ihr etwas ins Ohr flüsterte. Es gab Momente, in denen die Fantasie sich realer anfühlte als das Leben – und das jagte ihr solche Angst ein, dass sie sich jedes Mal wieder in die Wirklichkeit zurückkämpfte.
Ihre Hauptmotivation war Charlie. Sie lernte so viel von ihrem kleinen Sohn. All die Erziehungsratgeber wiesen den Eltern die Rolle des Lehrers zu. Nur wenige Bücher erinnerten die Leser daran, darauf zu achten, was man von einem Kind lernen konnte – die Freude, im Hier und Jetzt zu leben, das Staunen, mit dem sie die Welt betrachteten. Solche Dinge musste sie ihrem Kind nicht beibringen. Charlie hatte es in den Genen – er war aufs Glücklichsein programmiert.
Sie schwor, alles dafür zu tun, damit sich das nie änderte. Ihre Suche war erbittert und konzentriert; sie arbeitete sich so entschlossen durch ihre Trauer, wie der Überlebende eines Schiffsunglücks an Land rudert. Nach einer Weile wurde es besser. Sie funktionierte wieder. Sie konnte wieder lächeln und lachen und lieben und das Leben genießen. Sie konnte so tun, als gäbe es das klaffende Loch in ihrem Herzen nicht. Julian wäre stolz auf sie.
„Du machst niemandem was vor, weißt du.“ Logan half ihr beim Autowaschen. Daisy konnte sich gar nicht daran erinnern, wann sie ihren Wagen zuletzt gewaschen hatte, und war gerade mittendrin gewesen, als er vorbeigekommen war. Charlie liebte es, seinen Dad um sich zu haben. Und Daisy musste zugeben, dass es nett war, nicht alles allein machen zu müssen. Charlie hatte ihr mit den Sachen geholfen, die Spaß machten – der spritzende Wasserschlauch, der Seifenschaum –, aber jetzt, da es ans Abspülen und Trockenwischen ging, wurde ihm langweilig. Er spielte lieber mit Blake und seinem Fußball im Garten.
„Was meinst du?“, fragte sie Logan. „Wem mache ich was vor? Und worüber?“ Ein leichtes Zittern im Magen verriet ihr,
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