Zersetzt - Thriller (German Edition)
Julia setzte sich auf den geschlossenen Toilettendeckel und fixierte die zerlaufenen Buchstaben. Das war keine Einbildung oder ein paranoider Schub. Diese Zeilen waren real – oder? Der Satz verflüssigte sich, rann wie mit Blut geschrieben über die spiegelnde Fläche und tropfte auf die Ablage. Julia reflektierte über das bizarre Szenario. Ich muss rational vorgehen, muss klar denken. Wer will mich in den Wahnsinn treiben, mir solche Angst einjagen? Wer hätte etwas davon, wenn ich Berlin verlasse? Und wer kann einfach so in meine Wohnung spazieren?
So in ihren Gedanken vertieft, hörte sie ein entferntes Summen, das sich in kürzeren Abständen wiederholte. Was zum Kuckuck … Sie beschloss, diesem mysteriösen Geräusch auf den Grund zu gehen. Das Summen wurde aufdringlicher. Nach einer kurzen Pause ertönte das nervenaufreibende Geräusch erneut und sie ordnete seinen Ursprung dem Flur und der Eingangstür zu. Dort angelangt war der Ton so laut und anhaltend, dass sie sich die freie Hand vor ihr Ohr halten musste. Die Türglocke. Das gibt es doch nicht, sie hatte bisher einen Dreiklang und kein Summen. Der Blick durch den Spion verriet, dass keine Menschenseele vor ihrer Tür war, oder die Person musste im toten Winkel stehen, sodass Julia niemanden erkennen konnte. Sie griff zur Gegensprechanlage:
»Hallo, wer ist da?« Nichts, keine Antwort. Sie konnte nur den knatternden Auspuff eines vorbeifahrenden Autos hören. Diese ominöse Person, die den Badspiegel vollgeschmiert hat? Der Postbote hätte sich gemeldet, Felix und Kati liegen im Krankenhaus, Lehmann ist auf Geschäftstermin und Robert hat Dienst.
Auf Zehenspitzen schlich sich Julia durchs Schlafzimmer und ging auf die Loggia, in der Hoffnung, dass ihr der Blick auf den rätselhaften Gast freigegeben würde. Warum schleiche ich eigentlich in meiner eigenen Wohnung? So weit sie sich auch nach vorne beugte, die knorrige Eiche vor dem Balkonfenster versperrte ihr die Sicht auf den Eingangsbereich. Als sich im nächsten Moment zu dem Summen ein Hämmern an der Wohnungstür gesellte, überkam Julia eine Mischung aus Panik, Übelkeit, Neugierde und Wut. Sie nahm allen Mut zusammen und ballte eine Faust. Aber nicht ohne … Julia hechtete in die Küche. Sie zog eine Schublade nach der andern bis zum Anschlag auf. Die Kochutensilien schepperten wild durcheinander. Ein Wiegemesser? Nein. Eine Pfanne? Z u schwer. Energisch durchdrang das Hämmern Julias hektische Sucherei. Ein Messer? Sie griff in die letzte Lade und entschied sich für das große Fleischmesser. So, jetzt reicht´s mir aber, wer immer das auch ist , du kannst mich mal… Ohne zu zögern ging sie, durch den kleinen Flur, sah nicht mehr durch den Türspion, sondern öffnete ruckartig, mit dem Messer im Anschlag die Wohnungstür.
»Was zum Gei… «
Die zierliche Frau, die vor der Tür stand erschrak dermaßen, dass sie alles fallen ließ, was sie in der Hand hatte.
»E-e-e..«, stotterte Tanja und ging beim Anblick des Messers einen Schritt zurück.
«Entschuldigung, Frau Hoven, ich wollte, ähm, also … geht es Ihnen nicht gut?« Tanja Grünbaum, eine der jungen quirligen Praktikantinnen des Berliner Anzeigers, stand nervös vor Julia. Im ersten Moment konnte sich Julia zu der Frage nicht äußern und schüttelte den Kopf.
»Kann ich etwas für Sie tun, Frau Hoven? Ist etwas passiert?« Julia schlotterten die Knie. Sie bückte sich und legte das Messer hinter der Eingangstür ab.
»Danke Tanja, schon gut. Komm doch rein.«
»Ähm nee, keine Zeit. Dr. Lehmann hat mich gebeten, Ihnen das Handy zu bringen. Hatte er wohl noch in seiner Tasche, und Sie haben doch ... sind doch für Recherchen unterwegs. Eine Nachbarin hat mir unten die Tür geöffnet.« Sie hob das Smartphone wieder auf und streckte es Julia entgegen.
»Hoffe, das funktioniert noch, 'tschuldigung ...« Sie drehte sich um und rannte durch das Treppenhaus nach unten. Julia stand noch eine ganze Weile wie angewurzelt an der offenen Wohnungstür. Das erklärt aber immer noch nicht, wer in meiner Wohnung war – schon wieder. Ich muss zuerst mit meinem Vermieter telefonieren, es hat doch sonst niemand einen Haustürschlüssel und Einbruchspuren sind keine zu sehen.
»Mein Vermieter ist verstorben? Die Wohnung wurde vererbt? An wen? ...« Während Julia mit der Hausverwaltung telefonierte, kritzelte sie wie immer auf ihren Notizzettel. Diese Marotte war keine bewusste Handlung, sie setzte nur Strich an Strich
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