Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
hätte Nico es gleich gemerkt. Du kennst ihn doch.«
Auch wenn ich nur mit den Schultern zucke, kenne ich ihn natürlich. Nico sieht alles.
»Wenn es ernst gewesen wäre mit deiner Gefangennahme, hätte ich nie mitgemacht.«
»Ach ja? Nach dem, was du heute getan hast, traue ich dir alles zu.«
Der Schmerz in seinen Augen ist echt. Er greift nach meiner Hand, doch ich zucke zurück. Mit dieser Hand hat er das Messer gehalten, die Kehle des Lorders durchgeschlitzt.
»Musstest du ihn denn umbringen?«, frage ich.
»Rain, das war ein Lorder. Der Feind. Außerdem hat er uns gesehen und hätte dich identifizieren können. Ja, ich musste ihn umbringen. Wir befinden uns im Krieg. Menschen sterben.« Er zuckt die Achseln, in seinen Augen sehe ich keine Reue. Offenbar hat er nichts dabei empfunden, ein Menschenleben zu beenden, hat den blutenden Lorder wie Müll von sich gestoßen.
»Bring mich nach Hause«, flüstere ich.
»Dann komm.«
Wir müssen zu zweit aufs Motorrad, weil meine Maschine bei mir zu Hause steht. Auf der Suche nach Körperwärme setze ich mich dicht hinter ihn, doch wir sind Lichtjahre voneinander entfernt. Als wir die Kreuzung erreichen, von der meine Straße abgeht, hält er an. Wortlos steige ich ab und gehe.
An diesem Abend können selbst ein heißes Bad und ein warmes Essen die Kälte nicht vertreiben. In Decken gehüllt und mit voll aufgedrehter Heizung bibbere ich in meinem Zimmer immer noch. Mir will der Tag nicht aus dem Kopf gehen, immer wieder durchlebe ich ihn neu. Am liebsten würde ich ihn aus dem Gedächtnis streichen, noch mal zurückgehen, alles vergessen, aber …
Das bringt mich erst recht nicht weiter. Ich muss mich erinnern, das Warum herausbekommen. Der Angst ins Gesicht blicken, um zu wissen, was zurückstarrt.
Bei all den Dingen, die sich mir ins Bewusstsein drängen, sticht eines heraus: Dr. Lysanders Frage nach dem Warum. Dr. Lysander verschwendet weder Worte noch Gedanken, sie konzentriert sich aufs Wesentliche. Diese Frage flattert durch meine Gedanken, sucht einen Ort, um sich niederzulassen. Allmählich drifte ich in den Schlaf, bin so müde, dass sich Körper und Geist im Rhythmus wiegen, als würde ich laufen oder auf dem Rücken eines Pferdes im Galopp über Felder jagen, über Zäune springen.
Warum …?
Ich schreie immer wieder.
Bis die Tür aufgeht und Licht vom Flur hineinfällt.
»Was ist denn, Liebling?« Daddy setzt sich ans Bett.
Zunächst weine ich nur. Und dann zeige ich nach unten.
»Was ist denn da?«
»Ich habe etwas gehört. Da unten ist was«, flüstere ich.
»Wo?«
»Unter meinem Bett.«
»O je. Dann schaue ich lieber mal nach.«
»Sei vorsichtig!«
»Keine Angst, mir passiert schon nichts.« In meinem Schrank findet er unsere Monster-Jagd-Taschenlampe und schaltet sie ein. Er bückt sich und leuchtet unters Bett. Dann schaut er auf.
»Ich habe alles abgeleuchtet. Keine Monster.«
»Aber ich habe es genau gehört! Ehrlich.«
»Da ist wirklich nichts, das verspreche ich dir.« Daddy setzt sich auf die Fersen, sieht nachdenklich aus.
»Weißt du, das Allerbeste wäre, du siehst selbst nach.« Ich schüt tele den Kopf, aber Stück für Stück lockt er mich unter der Decke hervor.
»Überzeug dich selbst, Lucy. Dann weißt du es ganz sicher. Sieh der Angst ins Gesicht, dann verliert sie ihren Schrecken.«
Zitternd knie ich auf dem Boden und leuchte unters Bett. Ein paar Schuhe, ein verschollenes Buch. Kein Monster weit und breit.
Es ist noch dunkel, als ich aufwache. Den Traum will ich gar nicht wieder loslassen, ich halte mich an Lucys Gefühlen für ihren Vater fest. Dabei kenne ich ihn gut, auch wenn sein Gesicht in den Träumen immer verschwommen bleibt. Für Lucy, das kleine Mädchen, das ich einst war, gab es keine Monster, mit denen ihr Daddy nicht fertigwurde. Eine Erinnerung oder nur Wunschdenken? Nein. Ich weiß, dass es so gewesen ist. Aber je wacher ich werde, desto ferner rückt diese Welt.
Sobald ich versuche, mich aktiv an Lucy zu erinnern, klappt es nicht. Ich weiß ein paar Dinge, Fakten wie ihren Geburtstag vor ein paar Wochen. Ganz gleich, was Dr. Lysander über Zelltests gesagt hat, bei mir haben sie sich geirrt, mein Geburtstag ist der 3. November. Aber Gefühle oder Gesichter? Fehlanzeige.
Lucy sollte eigentlich komplett verschwunden sein. Laut Dr. Lysander wurde mein Ich gesplittet, in Lucy und Rain, aber Rain hat sich beim Slating hinter Lucy versteckt. Woher kommen also diese Träume?
Und dann steht noch
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