Zerteufelter Vers (German Edition)
alles um sie herum sah vollkommen normal aus; nur begegneten sie unterwegs keinen Menschen, sondern nebligen Seelen – wie der Abdruck eines richtigen Menschen. Gloria erstarrte, als sie plötzlich vor ihrem eigenen Elternhaus stehen blieben.
Die Reise hierher wirkte in Form einer Seele wie ein Katzensprung. Gloria trafen gleich mehrere Gefühle gleichzeitig: Traurigkeit, Freude, Sehnsucht, Heimweh… Sie wusste gar nicht, was sie als erstes denken sollte. Noch dazu hätte sie niemals vermutet, ihre Heimat auf solch eine absonderliche Weise und vor allem so schnell wiederzusehen. Immerhin war sie nun zurück – aber wahrscheinlich würde sie in dieser Seelenwelt weder ihre Freunde, noch ihren Vater antreffen… Kirt ließ Gloria einen Augenblick ihren Gedanken nachhängen, ehe er das Wort ergriff:
»Normalerweise sind die Welten ganz eng voneinander abgetrennt. Wassermenschen könnten Bauwerke, die durch Menschenhand erschaffen wurden, gar nicht sehen. Und in der Tat existieren diese für sie nicht; umgekehrt ist das genauso: Landmenschliche Augen könnten in den Tiefen der Meere noch nicht einmal etwas wahrnehmen . Luftwesen sind noch absonderlicher: Sie sind mit den Menschen nicht verwandt. Aber Seelen bilden die ähnlichste Gruppe zum Landmenschen. Menschliche Zeugnisse sind zwar auch für sie fremd – aber ich will mal mutmaßen, dass sie eine ähnliche Ahnung von der menschlichen Existenz besitzen, wie umgekehrt die Menschen an Geister glauben.
Alles, was durch Menschenhand erschaffen wurde, bleibt der Seelenwelt fremd. Alles, bis auf die Häuser, die sie bauen.« Kirt zuckte mit den Schultern. »Frag´ mich nicht nach dem Grund – ich kenne keinen nachvollziehbaren. Aber für Seelen gehören Häuser zur Natur, wie für Menschen zum Beispiel wild wachsende Bäume. Das ist aber auch die einzige Ausnahme, in der sich diese beiden Welten überschneiden.«
Kirt und Gloria standen vor ihrem Elternhaus und sie glitten hinein. Von innen sahen die so bekannten Räume ganz anders aus: Nur die kahlen Wände waren sichtbar; keine Bilder, keine Tapete, keine Einrichtung. Die puren Mauern… das nackte Gebäude – mehr nicht. Gloria musste daran denken, dass Menschen es als ganz gewöhnlich ansahen, dass Pflanzen in Parks und Gärten wuchsen. – Dabei waren es Lebewesen, die eher als Deko oder fast schon als Gebrauchsgegenstand eingesetzt wurden. Kaum vorstellbar, dass die Mauern der menschlichen Häuser für Seelen ungefähr genauso sein mussten!
Obwohl sie hier in ihrem Elternhaus stand, besaß Gloria nicht das Gefühl, zu Hause zu sein. Und natürlich… Anstatt ihren Vater anzutreffen, fand sie mehrere andere Seelen, die in diesem Haus wohnten! Gloria lief ein Schauer über den Rücken, bei dem Gedanken daran, dass diese Seelen immer da waren und sie quasi nie allein zu sein schien! – Aber weder Menschen, noch die Seelen ahnten von einander…
Das Buch wusste also alles über diese Welten – und nun auch sie. Gloria fragte sich, ob die Tatsache, Kirt zu treffen, nur einer von vielen vorgefertigten Punkten war, die sie durchlaufen sollte. Demnach konnte sie praktisch nichts und niemandem hundertprozentig trauen. Skeptisch schweifte ihr Blick zu Kirt… Was war er denn, wenn er ganz offenbar die Grenzen zwischen diesen Welten überschreiten konnte? Gloria ging langsam durch die kahlen Räume. Die Seelen, die ihr begegneten, störte es offensichtlich nicht, dass Gloria durch dieses Haus lief. Sie nahmen noch nicht einmal großartig Notiz von ihr.
Wenn irgendwer Fremdes durch ihr Haus in ihrer Welt gelaufen wäre, hätte sie wahrscheinlich einen Schlag gemacht! Kirt stellte sich zu ihr. »Alles okay bei dir?« Gloria wurde mulmig zumute; als wäre sie nach Hause gekommen und trotzdem nicht da. »Ist es den anderen einerlei, dass wir hier sind?« Kirt lächelte. »Seelen haben keinen Besitzanspruch. Häuser zählen nicht, schon vergessen? Würdest du sonderliche Anstalten machen, wenn du durch einen Park läufst und andere triffst?« Gloria schaute irritiert drein. »Ach so«, sie grübelte nach.
»Und von was leben Seelen?« Kirt schaute sie fachmännisch an. »Sie benötigen nur wenig Sauerstoff, aber ganz wichtig: Immer einen bestimmten Mindestgrad an Luftfeuchtigkeit. Deshalb fühlen sich viele Seelen im Wasser auch wohler als an der Luft.« Gloria musste lachen. Das wirkte alles absurd, aber nun gut… Das Buch war auch seltsam, insofern sollte sie am besten nichts mehr schocken. Den größten Schock
Weitere Kostenlose Bücher