Zerteufelter Vers (German Edition)
plötzlich vom einen bis zum anderen Ohr an. »Etwas so Misstrauisches wie dich habe ich wirklich selten erlebt.« Er lachte und sie wusste nicht, was an ihr für ihn ersichtlich war und was nicht. Sie hatte das Spielchen noch nicht ganz durchschaut und wirkte unsicher, ob er durch ihre Seelengestalt bereits Sachen von ihr erahnen konnte, die sie sonst vor ihm verheimlicht hätte. – Und das stimmte sie missmutig, woraufhin Kirt sofort aufhörte, sie auszulachen. Er wurde ernst und hielt inne.
»Ich würde dir gern etwas zeigen…« Zaghaft zog er an den Schlieren, die das Abbild ihrer Finger zeigten. Gloria schaute in sein Gesicht und vermisste seine schönen, blauen Augen. Stattdessen starrte sie nur in einen durchsichtigen Rauch. Er zog wieder an ihren Schlieren; das fühlte sich aber nicht genauso an, als hätte er ihre Hand ergriffen. Es ließ sich nur erahnen, dass sie mit ihm gehen sollte. »Wo willst du hin?« Kirt schaute sie eindringlich an. »An einen Ort, bei dem ich gerne bin.« »Welcher ist das?« Sie betrachtete ihn neugierig. »Du hast mich doch gefragt, wo ich nachts so oft hingehe.« Er lächelte und hielt inne. »Es ist mein Lieblingsort. Ich komme gerne zum Nachdenken dorthin.«
Er nahm sie mit und erstmals spürte Gloria auch selbst, wie schnell sie als Seele im Stande war, durch sonst kilometerweite Strecken zu gleiten. Es wirkte wie nichts – als hätten weder die Umwelt, noch sie selbst einen Widerstand. Sie durchquerten Felder und Flüsse, Hügel und kahle Ruinen. Vorbei an kleinen und großen Städten – sogar quer übers Meer.
Mit einem Mal tauchten sie plötzlich in wohltuendes Nass ein: Auch wenn Gloria es nicht wirklich auf ihrer Haut spüren konnte – denn die gab es schlicht und ergreifend nicht. Trotzdem fühlte es sich gut an, als sie auf die Wasseroberfläche des Meeres trafen und eintauchten. »Je größer die Feuchtigkeit, desto wohler fühlen sich Seelen.« Kirt lachte und glitt mit ihr immer tiefer und tiefer. Er ließ sich mit Gloria zusammen durch die Strömung treiben, die sie sanft in die Tiefe schaukelte.
Es wurde allmählich dunkler, aber Gloria hatte trotzdem keine Schwierigkeit, ringsherum die Vegetation wahrzunehmen. Sie erkannte den Meeresgrund; atemberaubend schön. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Es war, als stünde die Zeit still. Es schien, als hätte Zeit gar keine Bedeutung. Gloria schaute zögerlich in sein Gesicht und wartete ab. Er schwieg und sie selbst wusste nicht, was sie am ehesten sagen sollte. Dabei brannten unendlich viele Fragen auf ihrem Herzen. Gloria ließ die ruhige Atmosphäre auf sich wirken. Es war ein wunderschöner Ort: Weit und breit – nichts und niemand zu sehen. Sie hielt inne und musterte Kirt.
»Worüber grübelst du… wenn du hier bist und nachdenkst?« Gloria betrachtete beiläufig die Blüten einer nie zuvor gekannten Wasserpflanze. »Über dies und das.« Kirts milchige Schlieren flossen an den rauen Kanten eines Steins entlang. Es hatte den Anschein, als würde er darüber streichen. Doch wie flüssiger Atem durchstreifte der Stein seine Gestalt, die an dieser Stelle langsam in mehrere Richtungen zerfloss – unfassbar. Für das menschliche Auge musste es hier unten viel zu dunkel sein, für eine Seele nicht. Vielleicht lag es auch an ihrem zaghaften Leuchten; das Licht der eigenen Seele!
Gloria ließ ihren Blick schweifen; voller Erstaunen über all die seltsamen Steine, Pflanzen und atemberaubend farbigen Erscheinungen. Vielleicht waren es Lebewesen, vielleicht Korallen. Etwas, das jedem menschlichen Sehen für immer fernbleiben würde. Gloria durchstreifte mit ihrem Schein die Blüten der am Boden wachsenden Blumen. Blumen – in der Tiefe! Kirt beobachtete Gloria mit sichtbarer Freude: Der milchige Nebel, der seine Gestalt zeichnete, floss in freudig gespannter Stimmung, teils wie ein Flitzebogen in- und umeinander.
»Manchmal will ich nur ein bisschen meine Ruhe haben. Ich denke über vieles nach, auch wenn es vielleicht nicht danach aussieht.« Gloria fühlte eine Art Unruhe in ihm – allmählich bekam sie ein Gespür dafür, was er damit meinte, in eine Seele zu schauen. Es wirkte schon komisch, ohne Worte zu verstehen wie sich der andere fühlte. Und in keiner Weise war es damit zu vergleichen, was Gloria gesehen hatte, als sie Rommerz oder anderen ins Innere schaute. Denn darin spiegelten sich nur Erlebnisse und Erinnerungen, mehr nicht. Zwar konnte Gloria die Gefühle dieser Personen dann besser
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