Zerteufelter Vers (German Edition)
blätterte um, doch wie schon vermutet, konnte sie die nächste Seite nicht lesen. Darum las Gloria das Gedicht gleich ein zweites Mal durch und dachte über den Sinn nach, den diese Zeilen innehaben sollten. Die ersten beiden Strophen schienen einigermaßen verständlich. Natürlich wollten die Menschen immer wissen, was die Zukunft brachte – egal, ob das vernünftig war oder nicht. Und die allererste Strophe sagte im Prinzip etwas Ähnliches aus, wie das Gedicht zuvor: Glück und Leid gehörten stets zusammen. Das eine kam ohne das andere nicht aus. Glück konnte nicht wertgeschätzt werden, solange man nicht wusste, wie es sich anfühlte, traurig zu sein.
Aber die letzte Strophe verstand Gloria nicht: ‹Ins Herz man sich stieß, wo doch so schön sein kann das Leben. Willst Du´s riskieren, so lies, so wird Dir gegeben.› Das Leben konnte schön sein, aber wenn man mehr wollte, als einem zustand, schoss man sich oftmals ein Eigentor. War so etwas mit den ersten beiden Zeilen gemeint? Gloria dachte nach. Was wurde einem denn gegeben, wenn man las? Eines schien klar – sie war zu allem bereit, was sich Neues in ihren Weg stellte! Genau deswegen kam sie ja überhaupt hierher. Und das bildete den Grund, weshalb sie nicht schon längst ihre sieben Sachen zusammengepackt hatte und wieder nach Hause gefahren war!
‹Willst Du´s riskieren, so lies, so wird Dir gegeben.› Ja, verdammt. Sie würde es riskieren – was auch immer und egal, ob man sich damit ins Herz stieß oder nicht. Gloria blätterte um, damit sie das Buch in Ruhe wegstecken konnte, doch wo eben noch ein Wirrwarr aus Zeichen geherrscht hatte, standen nun ganze Sätze… Ohne zu lesen, blätterte sie weiter und auch die nächsten Seiten waren mit leserlichen Buchstaben beschrieben!
Gloria begann hektisch zu lesen… Doch was sie las, stimmte sie skeptisch: Da standen die Todesdaten von Personen, deren Namen sie nicht kannte! Es las sich wie die Todesanzeigen in den Zeitungen. Gloria sah die Einträge genau an, als ihr plötzlich die Daten auffielen: Sie hatte völlig die Zeit vergessen. Dort stand bei allen Anzeigen der 21. Mai. Gloria hielt inne und suchte ihr Handy. Sie blickte prüfend nach dem heutigen Datum in der Displayanzeige. Heute war erst der 19. Mai!
Erschrocken starrte Gloria wieder auf die aufgeschlagene Seite. Langsam blätterte sie um und ihr Blick tastete sich von Anzeige zu Anzeige. Es waren ganze Romane – überfüllt von Todesdaten, verziert mit kleinen Kreuzen. Und immer wieder standen die Namen der Angehörigen dabei, die um ihre Lieben trauerten! Erschrocken musterte Gloria das Buch. Eine solche Anzeige hatten sie und ihr Vater damals für ihre Mum auch aufgegeben. ‹Durch einen tragischen Unfall› hieß es damals. Gloria sah sich die Todesursachen der aufgelisteten Personen genau an.
Ein Herr war wegen einer langen Krankheit verstorben, der nächste wegen… Was hieß eigentlich verstorben? Gloria vergewisserte sich erneut mit einem Blick auf ihr Handy, dass heute erst der 19. Mai war: Das hieß – wenn sie es richtig las – dass diese Menschen erst noch sterben werden! Gloria klopfte das Herz. Es war schon spät und eigentlich sollte sie sich nach einem geeigneten Schlafplatz umsehen. Doch was sie hier schwarz auf weiß in den Händen hielt, konnte sie nicht einfach abschütteln!
Zum Glück besaß sie an ihrem Schlüsselanhänger eine kleine Taschenlampe. So war sie in der Lage, auch noch weiterzulesen, als es dunkel wurde. Gloria stöberte jede einzelne Anzeige durch. Sie konnte nicht fassen, dass das Gedicht die Zukunft aller Menschen gemeint hatte. – Dass es den Tod meinte?! In dieser Nacht machte Gloria lange kein Auge zu, bis sie ihr schließlich so brannten, dass sie nicht mehr weiterlesen konnte. Sie starrte in die Dunkelheit und bekam es plötzlich mit der Angst zu tun! – Allein auf einer Parkbank… mit dem Wissen um den Tod fremder Schicksale. Konnte das wirklich wahr sein?
Es dauerte lange, bis Gloria endlich in den Schlaf fand. Dies war die erste Nacht seit drei Monaten, in der sie keinen Alptraum vom Tod ihrer Mutter bekam. Stattdessen träumte sie von ihm, dem großen Unbekannten, dessen kalte Miene sie abwechselnd angrinste und herausforderte. Als sie aufwachte, wusste sie nicht, welche Träume schlimmer waren – diese oder die von ihrer Mutter. Sie richtete sich auf und schaute sich um.
Die Vögel zwitscherten und die Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg durch die hohen Baumkronen. Sofort
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