Zerteufelter Vers (German Edition)
den Auspuff stecken, doch das würde wahrscheinlich gleich wieder herausfliegen, sobald man den Motor startete. Oder man hielt einen Schlauch in den Tank und stahl das Benzin. Allerdings besaß Gloria weder einen Schlauch, noch kam sie an den Tank! In einem Film hatte sie mal gesehen, wie man den Reifen die Luft entzog… Das war eine gute Idee!
Gloria ging zu einem der geparkten Autos – ein modernes Modell. Sie sah bei den Felgen nach dem Ventil, doch dieses wirkte unvollständig. Zumindest war dort kein Nippelchen angebracht, mit dem sie die Luft aus dem Reifen lassen könnte. Gloria ging enttäuscht zu einem in die Jahre gekommenen Wagen und sah dort nach. Sie löste die Kappe des Ventils und entdecke auf der Rückseite den Nippel, an den sie sich aus dem Film erinnerte. Mit dem hatte der Typ aus der Sendung damals die Luft aus den Reifen gelassen. Gloria fummelte mit der umgedrehten Ventilkappe an der Felge herum und merkte, dass sie das komplette Ventil herausdrehen konnte… Ideal – das war perfekt! Gloria freute sich wie eine Schneekönigin.
Im Handumdrehen wich die Luft aus den Reifen. Auf diese Weise konnte Gloria jeden Wagen in der gesamten Straße lahmlegen, ohne dass sie die Fahrzeuge ernsthaft beschädigte. Man musste sich nur einen Luftdruckmesser von der nächsten Tankstelle holen und den Reifen wieder aufpumpen. Doch darauf würde in der allgemeinen, morgendlichen Hektik niemand kommen. Es war bemerkenswert, dass die ganzen neuen Autos keinen solchen Nippel auf der Rückseite der Ventilkappe besaßen! Doch mit dem Teilchen des ersten Reifens war Gloria in der Lage, sämtliche Räder zu plätten… Vorsichtshalber steckte sie es ein und würde bis morgen Nacht warten, damit ihr niemand auf die Schliche kam.
Zufrieden schlenderte sie zurück zur Altstadt. Dort angekommen, öffnete Gloria erneut das Buch, um weiterzulesen, doch außer Todesdaten war nichts darin zu finden. Sie blätterte die Seiten um, bis schließlich wieder verwobene Linien das Blatt zierten. Offensichtlich war die Anzahl der Toten für die nächsten Monate beschränkt, denn im September hörten die Anzeigen plötzlich auf. Als es endlich halb fünf Uhr nachmittags war, erlaubte Gloria sich, eine Pizza zu holen. Normalerweise hätte sie zu dieser Zeit in der Schule gesessen. Sie bekam ein schlechtes Gewissen…
All zu lange durfte Gloria nicht wegbleiben. Sie setzte sich eine Frist von vier Wochen. Ärger bekam sie ohnehin; also wollte sie ihre Freiheit für diese Zeit auskosten. Doch ihr Vater wurde sicher wahnsinnig vor Sorge. – Das wollte sie nicht. Kurzerhand schrieb Gloria ihm eine SMS. Sie versuchte, ihre Flucht zu erklären und hoffte, ihren Vater beruhigen zu können. Einerseits tat es Gloria leid, andererseits war dies der einzige Weg, einen neuen Anfang zu finden.
Die Hitze des heutigen Tages sank auf erträgliche Temperaturen und läutete den Feierabend ein. Gloria ging in eine Kneipe, um sich auf dem Damen-WC frisch zu machen. Als Schlafplatz wählte sie aufs Neue den Hofgarten und hoffte, die Nacht unversehrt zu überstehen. Gloria besaß ohnehin nichts mehr, das man ihr hätte stehlen können; abgesehen von ihrem Buch und dem Stückchen angebissener Pizza. Die Nachtluft wurde mild und sie fasste sich ein Herz – es würde schon nichts passieren. Gloria schloss die Augen und schlief ein.
Am nächsten Tag versuchte sie erneut, in dem Buch zu lesen. Doch wie schon befürchtet, tat sich nichts Neues. Bei dem Gedanken daran, dass es heute vielleicht den armen Herrn Kragenheld erwischte, wurde ihr ganz schlecht. Doch wie sollte ein Buch die Zukunft verraten?! Gloria biss die Zähne aufeinander. Wenn sie nicht schon längst akzeptiert hätte, dass dieses rätselhafte Buch offenbar ein Eigenleben besaß, hätte sie sich erst gar nicht so viele Sorgen gemacht. Wenn es jedoch ihre Aufgabe sein sollte, all die Szenarien zu verhindert…?!
Dadurch, dass die Anzeigen stets zeitverzögert in den Tageszeitungen erschienen, erlangte Gloria keine neuen Kenntnisse. In der kommenden Nacht schloss sie kaum ein Auge und wälzte sich von der einen auf die andere Seite… als ihr plötzlich mit Schrecken einfiel, dass sie gar nicht wissen konnte, wie früh ihre Kandidatin das Haus verließ! Also machte Gloria sich auf den Weg… Ein banges Gefühl durchkämmte sie bei ihrer nächtlichen Wanderung. Die Strecke bis nach Flingern war weit und mit den Gedanken an ihren letzten, nächtlichen Spaziergang wurde ihr angst und bange.
Weitere Kostenlose Bücher