Zerteufelter Vers (German Edition)
Schließlich rannte sie die Hälfte des Weges und kam außer Atem um halb fünf Uhr morgens in der Straße an, in der diese Frau wohnte.
Die Ventilkappe, mit der Gloria die Luft aus den Reifen lassen konnte, hatte sie beim letzten Mal eingesteckt und so machte sie sich an die Arbeit: Sieben Autos kamen in Frage und alle legte Gloria mit einem Rad tiefer! – Ein Kinderspiel. Sie brauchte nur ein paar Minuten für ihr Werk. Gloria kauerte sich an eine Hecke und wartete ab. Als die Straße endlich zu Leben erwachte, hallte stets ein heftiges Schimpfen durch die Wohnsiedlung, sobald einer der Autofahrer sich über seinen platten Reifen aufregte. Gloria durchfuhr ein Hauch schlechten Gewissens. Um halb acht war es soweit: Die Frau, die Gloria nur ein einziges Mal gesehen hatte, lief den Bürgersteig entlang – ganz dicht an Gloria vorüber, die sich hinter einer Mülltonne versteckt hielt. Insgesamt standen noch drei Wagen zur Auswahl. Am ersten ging sie vorbei. Langsam stieg Gloria aus ihrem Versteck, um die Frau besser beobachten zu können. Am zweiten Auto war sie gerade vorübergegangen und – verdammt – am dritten auch!
Gloria blickte ihr verärgert hinterher und folgte der Dame. Zwei Straßen weiter blieb sie endlich stehen – an einer Bushaltestelle. Na super! Der Bus ließ nicht lange auf sich warten. Nachdem die Frau eingestiegen war, huschte Gloria hinterher und hoffte inständig, nicht nach einem Ticket gefragt zu werden. Sie fuhren zehn Minuten lang – zurück Richtung Innenstadt. Gloria saß wie auf heißen Kohlen ein paar Sitzbänke hinter der Frau und wartete darauf, dass sie die Haltestelle erreichten, an der ihre Kandidatin aussteigen würde. Und nach weiteren fünf Minuten war es zum Glück soweit: Wieder im Eilschritt ging die Frau die Straße entlang und verschwand schließlich in dem Seiteneingang einer Boutique. Weg war sie! Das bedeutete, schon wieder warten zu müssen; und zwar den gesamten Tag!
Wenn die Frau heute Abend beispielsweise von ihrem Mann mit dem Auto abgeholt wurde – wie sollte Gloria das verhindern? Der Vormittag zog sich. Gloria überlegte, in das Geschäft zu gehen und der Dame mitzuteilen, dass sie für den Rest des Tages um Gottes Willen in kein Auto steigen sollte. Wahrscheinlich würde man sie verdattert anblicken und herauswerfen. Gloria zerbrach sich den Kopf. Auf der einen Seite wollte sie, dass die Zeit voranschritt, auf der anderen hätte Gloria die Frau am liebsten in diesem Laden eingesperrt, damit nichts passierte. Sie malte sich tausend Situationen aus, die geschehen konnten; eine unrealistischer als die andere. Wie sollte man schon jemanden retten, der mit einem Auto davonfuhr? Der Stundenzeiger des Kirchturms bewegte sich in Zeitlupentempo… Als es endlich halb fünf abends war, verabschiedete sich die Frau von ihrer Kollegin und ging.
Gloria war augenblicklich hellwach. In geringem Abstand folgte sie ihr. Als sie schließlich die Einkaufsstraße verließ, stieg in Gloria die Nervosität an. Sie versuchte, sämtliche Straßenbahnen im Blick zu behalten. Die Frau ging weiter und weiter – die Bushaltestellen ließ sie dieses Mal links liegen und Gloria folgte ihr auf Schritt und Tritt. Aber es tat sich nichts und die Frau hatte scheinbar auch nicht vor, ein Verkehrsmittel zu benutzen. Um sie herum – eine Traube von Menschen, so dass Glorias Verfolgung nicht auffiel. Die Fußgängerampel schaltete auf Grün und die Traube setze sich zäh in Bewegung, als Gloria mit einem Schrei, Entsetzen und schieren Glück gerade noch zur Seite hechten konnte!
Ein Lastwagen – um die Ecke gebogen… das Fußgänger-Grün übersehen…! Adrenalin schoss Gloria durch die Adern, ein heller Schmerz durchfuhr ihren Körper – mit dem Blick auf den Bürgersteig, zu dem sie gerade noch hechten konnte…
Sollte es das gewesen sein? Das konnte nicht wahr sein. Zu einfach, zu schnell. Das hätte niemand vorhersehen können! Um Gloria herum herrschte gelähmte Panik. Erst jetzt bemerkte sie, was geschehen war: Ein LKW-Fahrer hatte das Grün der Fußgängerampel übersehen und war inmitten mehrere Menschen gefahren. Einige schrien, manche waren verletzt. Gloria sah benebelt auf ihre Handflächen und Arme: Blut, aufgeschürfte Haut, Dreck! Doch sie spürte keinerlei Schmerzen. Alles an ihr fühlte sich seltsam taub an. Der Lastwagenfahrer stieg auf einmal hektisch aus und kam hinzu. Gloria starrte wie in Trance in die Gesichter der Leute. Schnell stand sie auf und blickte in
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