Zerwüteter Pakt (German Edition)
mit Jens zusammen den Laden. Jens hingegen schien missmutig. »Wer war das denn?« Gloria lachte. »Keine Ahnung. Ist das wichtig?« Der Rest des Tages verging wie im Flug. Im Zug angekommen, entschuldigte Gloria sich rasch zu den Toiletten, um das Gedicht in Ruhe noch einmal zu lesen…
Siedender Bann, ertrinkendes Wann,
gefesselt vom Streben,
sehnsüchtiges Leben,
erstickt im Keim –
ich lass´ dich nicht allein!
Das Wichtigste schien die allerletzte Zeile zu sein. Maribell ließ sie nicht im Stich. Dies bildete allerdings auch das einzig Verständliche. Was sollte bloß der Rest bedeuten und konnte Maribell sich nicht langsam mal angewöhnen, klare, verständliche Sätze zu schreiben? ‹Siedender Bann, ertrinkendes Wann, gefesselt vom Streben, sehnsüchtiges Leben.› War damit vielleicht ihre Suche nach der zwischenirdischen Welt gemeint? Gloria starrte auf den kleinen Zettel in ihren Fingern und dachte nach. ‹Erstickt im Keim – ich lass´ dich nicht allein!› Was oder wer erstickte wen im Keim? Diese Verse gaben Gloria keinen Anhaltspunkt auf die Kreatur, die sie durch den Park gehetzt hatte.
Gloria durchfuhr der Gedanke, dass Maribell nicht ohne Grund einen so plötzlichen Sinneswandel hingelegt hatte. Bestimmt waren auch ihr die Geschehnisse im Wald nicht verborgen geblieben, aber vielleicht konnte sie nicht eingreifen. Um Gloria mitzuteilen, dass sie mit dieser geisterhaften Erscheinung nicht vollkommen allein war, schrieb sie ihr nun. Anstelle einer erneuten Anklage, fielen die Verse jetzt ganz anders aus. Dabei hatte Gloria mit ihrem Einbruch in das Wolfsgehege die Engelswelt noch deutlicher provoziert als vorher… Glorias Skepsis wog immer schwerer: Da passte etwas nicht zusammen. Wenn Maribell vorher schon sauer auf sie war, hätte sie es nach dieser Aktion umso mehr sein müssen. – War sie aber nicht!
Noch dazu hatte sie ihr von ‹göttlichen Entscheidungen› und Phrasen wie ‹Gesetz ist Gesetz – nicht antastbar› geschrieben. Sollte das alles plötzlich vergessen sein? – Dann doch nur, weil etwas Unvorhergesehenes vorgefallen war, das ihre Meinung änderte. Zog Gloria also ein Fazit, hatten Maribells Warnungen und angebliche göttliche Entscheidungen nichts mit dem Vorfall ihrer Hetzjagd zutun. Doch wenn es nichts Göttliches innehatte, dann konnte es auch nicht mit Engeln in Verbindung stehen. Wenn es sich quasi nicht um die gute Seite drehte, lag es nah, dass es um die weniger gute, also die böse Seite ging… Glorias Gedanken überschlugen sich, als sich plötzlich die rote Schrift vor ihrem geistigen Augen auftat und ihr bitterböse in den Magen fuhr: ‹Von Malerhand – den Teufel an die Wand gesandt!› Ging es hier wirklich um den Teufel höchstpersönlich?
Geschockt blickte Gloria von dem kleinen Stückchen Papier in ihr eigenes Spiegelbild. Wenn ihre Schlussfolgerung richtig war, dann hieß das nur eines: Sie hatte ein Problem – und zwar ein großes!
Der Zug ratterte in den Kurven, während Glorias Vorahnung immer festere Gestalt annahm. Einerseits wollte sie um Kirt kämpfen. Das hieß, dass sie an dem Plan, ein zwischenirdisches Wesen zu treffen, festhalten musste. Andererseits flößte ihr die Erinnerung an die unsichtbaren Schläge Angst ein. – Dann nahm das Wort ‹Teufelskreis› in diesem Zusammenhang eine ganz neue Bedeutung an; und zwar eine bedrohliche! Eines war klar: Sie hatte keine Wahl. Sie musste ihr Leben weiterleben und hoffen, genügend Schutzengel auf ihrer Seite zu haben!
Die Rückfahrt verging wie im Flug. Am Waberner Bahnhof angekommen, wartete Silke mit dem Auto. Obwohl Gloria bereits letzte Nacht kaum geschlafen hatte, lag sie an diesem Abend hellwach in ihrem Bett und wälzte sich von der einen auf die andere Seite. Endlos viele Fragen türmten sich in ihrem Kopf. Es half nichts – alles Nachdenken löste ihre Probleme nicht. Der letzte Tag ihres Kurzurlaubs verging. Nichts Außergewöhnliches passierte. Allerdings hatte Gloria auch zugesehen, stets in Jens´ Gesellschaft zu bleiben. Doch damit würde es ab heute Mittag vorbei sein: Die Zugfahrt nach Weimar stand an. Eine Zugfahrt, ganz allein – zurück in die Heimat, zurück zu ihrem Vater und Kamilla – und hoffentlich mit erkenntnisreichen Gedichten aus Maribells Feder.
4 Siebter Sinn
Es fühlte sich in gewisser Weise an wie ein Déjà-vu, als sich die Türen des Zuges vor Gloria öffneten, sie auf den Bahnsteig des Weimarer Bahnhofs trat und ihr Vater sie empfing. Er breitete
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