Zeugin am Abgrund
nächsten Wochen oder sogar Monaten hatten viele unangenehme Zeitgenossen keinen anderen Ehrgeiz, als sie zu töten. Wenn sie überleben wollte, musste sie ständig und jedem gegenüber misstrauisch sein. Wenn sie klug war, würde sie sogar ihm nicht trauen.
Lauren warf einen Blick auf Sam Rawlins’ kantiges Profil. Er machte ihr fast so viel Angst wie diese schreckliche Situation. Der Mann schien keine normalen menschlichen Gefühle zu besitzen. Jedenfalls keine Angst. Und auch keine Freundlichkeit.
Der kurze Schlaf und die heiße Dusche hatten sie ein wenig ruhiger werden lassen, aber jetzt begann sich ihr Magen wieder zu verkrampfen. Ein eisiger Schauder lief ihr über den Rücken. Wenn Sam Rawlins es gespürt hatte, dann ließ er sich zumindest nichts anmerken.
“Wo … wo ist Agent Owens? Ich dachte, er begleitet uns.” Zumindest hoffte sie das. Die Aussicht, mit diesem harschen Mann für Wochen allein zusammen zu sein, war nahezu unerträglich.
“Er wartet im Wagen.”
Die Metallstufen klapperten, als sie das letzte Stück Treppe bis in die Tiefgarage zurücklegten, doch als Lauren auf die Tür zuging, riss Sam sie zurück und drückte sie gegen die daneben befindliche Wand.
“Sie bleiben hier, bis ich Ihnen sage, dass Sie sich bewegen sollen. Und machen Sie kein Geräusch.” Er betrachtete sie kritisch. “Ziehen Sie den Parka an und stülpen Sie sich die Kapuze über den Kopf, damit man von Ihrem Gesicht so wenig wie möglich sieht. Wenn ich es Ihnen sage, halten Sie den Kopf runter und laufen los. Und damit meine ich auch ‚laufen‘. Verstanden?”
Lauren nickte stumm, da sie zu entsetzt war, um noch einen Laut von sich zu geben. Sie schaffte es kaum durchzuatmen.
Sam wartete, bis sie den Parka übergezogen hatte, dann drückte er sich an die Wand auf der anderen Seite der Tür. Lauren riss die Augen auf, und ihr Herz machte vor Schreck einen Satz, als er unter seinem Mantel eine Waffe hervorholte und sie so hielt, dass die Mündung an die Decke zeigte. Mit der linken Hand zog er die schwere Metalltür einen Spaltbreit auf.
Offenbar war er zufrieden mit dem, was er sah, und öffnete die Tür etwas mehr, um rasch in alle Richtungen zu blicken. “Alles in Ordnung?”
“Ja, hier ist keiner”, hörte sie Agent Owens antworten.
Sam sah zu Lauren. “Okay, es geht los.”
Blitzschnell fasste er sie am Handgelenk, zog sie zu sich und trat mit ihr nach draußen in die Tiefgarage. Lauren nahm flüchtig einen unauffälligen grauen Wagen wahr, der ein paar Meter entfernt mit laufendem Motor und offen stehender hinterer Beifahrertür dastand. Im nächsten Moment wurde sie bereits in den Wagen bugsiert und mit dem Gesicht nach unten auf das Sitzpolster gedrückt.
“Verstecken Sie sich darunter”, befahl Sam und warf eine schwere Wolldecke über sie. “Und bleiben Sie auf jeden Fall unten!” Er warf die hintere Tür zu, riss die vordere Beifahrertür auf und hechtete in den Wagen. “Los! Los!” rief er, während Agent Owens mit quietschenden Reifen das Parkdeck verließ.
Lauren rollte sich unter der Decke zusammen und schloss die Augen. Sie zitterte und betete. Sie rechnete damit, dass Carlos Killer jeden Augenblick zuschlugen, dass sich Projektile aus ihren Waffen einen Weg durch das Metall des Wagens bohrten und tief in ihr Fleisch eindrangen. Oder sie überholten sie und drängten den Wagen von der Straße, so dass sie alle bei einem schweren Verkehrsunfall ums Leben kamen.
Aber nichts davon geschah. Sie nahm nur den normalen Verkehrslärm wahr, unterbrochen von gelegentlichen knappen Bemerkungen der beiden Agenten auf den Vordersitzen. Nachdem zwanzig Minuten lang nichts geschehen war, brachte sie endlich den Mut auf, die Decke anzuheben und hinauszuspähen. Sie sah nur die Hinterköpfe der beiden Männer. Sam Rawlins saß auf dem Beifahrersitz. Er blickte ständig hin und her, immer auf der Suche nach eventuellen Gefahren.
Der Verkehrslärm wurde stetig leiser, bis außer dem Motorengeräusch ihres Wagens nichts mehr zu hören war. Nach einer scheinbaren Ewigkeit bog der Wagen vom Highway offenbar auf einen Feldweg ab. Agent Owens nahm Gas weg, als sie über Bodenwellen und durch Schlaglöcher fuhren. Kies knirschte unter den Reifen und schlug gegen die Bodenbleche. Bei jedem dieser Treffer zuckte Lauren zusammen, als hätte jemand auf sie geschossen.
Schließlich hielt Owens den Wagen an.
“Lass den Motor laufen, während ich mich umsehe. Beim leisesten Anzeichen für Probleme
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