Zeugin am Abgrund
festgeschnürt hatte, wiederholte er das Ganze an seinem anderen Bein.
Er warf Lauren einen Blick zu. “An Ihrer Stelle würde ich mich beeilen. Wenn Sie nicht von selbst anfangen, werde ich Sie gleich höchstpersönlich ausziehen.”
Lauren schnappte nach Luft. So arrogant und überheblich, wie er war, würde er das wirklich machen. Da er einen Kopf größer und bestimmt vierzig Kilo schwerer war, gab es keinen Zweifel daran, wer aus der Situation als Sieger hervorgehen würde.
Sie war versucht, ihm zu sagen, er solle sich zum Teufel scheren. Sie hätte es auch gemacht, wenn sie das hier ohne ihn hätte überleben können, doch im Augenblick hatte sie einfach keine andere Wahl.
″Schon gut, aber ich werde mich dort drüben hinter die Bäume verziehen.”
“Sparen Sie sich das. Ich werde ganz bestimmt keine Lust empfinden, wenn ich Sie in einer Wollunterhose vor mir sehe.”
Lauren hob trotzig das Kinn. “Das hätte ich auch nicht von Ihnen erwartet, aber ich muss … zur Toilette.”
Er hob erstaunt eine Augenbraue, während er sie durchdringend ansah. “Zur Toilette?”
Sie hielt seinem Blick stand und hob das Kinn noch ein Stück höher. “Ja. Wenn ich mich schon umziehen muss, dann kann ich das auf einem Weg erledigen.”
“Ja, ist gut. Aber gehen Sie nicht zu weit weg. Und denken Sie daran, was ich gesagt habe. Bekommen Sie keine nassen Füße”, rief er ihr nach, während sie sich durch den hohen Schnee kämpfte und hinter einem großen Baum verschwand, dessen mit Schnee bedeckte Zweige fast den Boden erreichten.
Als sie zehn Minuten später zurückkehrte, war Sam vollständig angezogen und hatte den Rucksack und das Gewehr geschultert. Er sah sie ungeduldig an und warf ihr den Matchbeutel zu, der sie abermals fast umriss.
“Ziehen Sie die Kapuze über”, wies er sie an. “Der Fellbesatz sorgt dafür, dass die Luft ein wenig angewärmt wird, bevor Sie sie einatmen. Das ist besser für Ihre Lungen. Wenn Sie ausatmen, wird sich Ihr Atem in Form von Eiskristallen auf dem Fell absetzen. Die müssen Sie unbedingt von Zeit zu Zeit abwischen.”
Er drehte sich um und ging wieder los.
Der Marsch durch den hohen Schnee strengte sie an, obwohl Sam ihr schon eine Schneise freitrat. Lauren bemühte sich, ihm zu folgen, während sie ihm immer wieder giftige Blicke zuwarf. Dass sie von jemandem abhängig war, gefiel ihr nicht besonders gut. Aber dass sie keine andere Wahl hatte, als ausgerechnet diesem Mann ihr Leben anzuvertrauen, das war die Krönung.
Wenn sie aus dem Ende ihrer Karriere und dem bitteren Erlebnis mit ihrem Verlobten eines gelernt hatte, dann war es der Drang, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie hatte sich geschworen, sich nie wieder von anderen etwas sagen zu lassen und alle Entscheidungen selbst zu treffen. Und jetzt lief sie hinter einem Mann her, den sie kaum kannte, und war völlig von ihm abhängig. Oh, wie sie das hasste.
Seit sie vor zehn Monaten aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte Lauren dreimal wöchentlich ein Fitnessstudio besucht, um wieder in Form zu kommen. Insgesamt war sie in bester körperlicher Verfassung gewesen -- jedenfalls hatte sie das gedacht. In dieser Höhe jedoch war die Luft viel dünner, und jede Bewegung erforderte den doppelten Kraftaufwand. Hinzu kam, dass sie zu wenig geschlafen und zweimal nur knapp dem Tod entronnen war, was sie körperlich und geistig an den Rand der Erschöpfung gebracht hatte.
Es dauerte nicht lange, bis sie nur noch angestrengt und flach atmen konnte und ihr Herz wie eine alte Dampflok ratterte. Die trockene Luft brannte in ihren Lungen und ließ ihre Kehle austrocknen. Bei jedem Schritt keuchte sie und schnappte nach Luft, aber Sam gestand ihr nur hin und wieder etwas Wasser aus dem Kanister zu.
Es störte sie, dass er kein bisschen angestrengt wirkte. Er behielt sein Tempo bei, ohne dass er sich erkennbar bemühen musste; sein Gesicht war wie versteinert.
Lauren bemühte sich, mit ihm mitzuhalten, aber der Abstand zu ihm vergrößerte sich zusehends. Der Schneefall war stärker geworden, und der Wind wirbelte die Schneeflocken so umher, dass sie kaum noch etwas sehen konnte. Sam, der vielleicht drei oder vier Meter vor ihr ging, war nichts weiter als ein grauer Schemen inmitten des weißen Wirbelns.
Sie fragte sich, ob er wirklich wusste, wohin sie gehen mussten, oder ob er vielleicht nur ziellos drauflosmarschierte.
Er sah über die Schulter zurück. “Wenn Sie nicht dicht an mir dranbleiben,
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