Zeugin am Abgrund
Navajo”, sagte er knapp und riss an dem Seil, schob die Tür zur Seite und trat hinaus in den Schneesturm.
“Warten Sie!” rief sie ihm zu und machte mit ihren Schneeschuhen einige unbeholfene Schritte, da sie sonst der Länge nach hingefallen wäre.
9. KAPITEL
I n den folgenden zwei Stunden waren sie so sehr mit dem Sammeln von Brennholz beschäftigt, dass sie kaum ein Wort wechselten. Es war so kalt, dass jeder Atemzug schmerzte. Sam bahnte sich seinen Weg durch den hohen Schnee und machte den Eindruck, als würde er von der eisigen Kälte und dem blendenden Schneegestöber um ihn herum gar nichts wahrnehmen. Er ging von Baum zu Baum und hackte alle kleineren bis mittleren Zweige ab, die in seiner Reichweite waren. Lauren stapfte hinter ihm her, keuchte und zitterte. Sie hatte das Gefühl, zwei Paar Stiefel übereinander zu tragen, und musste sich völlig darauf konzentrieren, das Gleichgewicht zu wahren.
Während Sam mit der Axt Zweige schlug, stapelte Lauren sie zusammen mit dem Holz, das sie fand, aufeinander. Sie war froh, dass er sie an sich gebunden hatte, denn obwohl das Seil fünf oder sechs Meter lang war, verlor sie Sam bereits aus den Augen, wenn sie sich nur ein kleines Stück zu weit von ihm entfernte.
Jedes Mal, wenn sie mit einer Baumgruppe fertig waren, trugen sie das gesammelte Holz zurück zur Hütte. Dabei mussten sie bei jedem Stapel mehrere Male gehen, und als Sam endlich erklärte, sie hätten nun genug, war Lauren halb erfroren und vom Holzschleppen und vom Kampf mit den ungewohnten, sperrigen Schneeschuhen so erschöpft, dass sie kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte.
Als sie wieder in der Hütte waren, klopfte sie den Schnee von Parka und Hose und ließ sich dann auf den Schlafsack fallen.
“Bevor Sie es sich zu bequem machen, geben Sie mir die Schneeschuhe. Ich brauche sie jetzt.”
Lauren machte ein Auge auf und sah ihn an. “Sie gehen noch mal raus? Ich dachte, wir hätten genug Holz.”
“Haben wir auch. Ich werde die Fallen kontrollieren. Mit ein wenig Glück haben wir Frischfleisch zum Abendessen.”
Sie seufzte und wollte wieder aufstehen. “Ich gehe mit und helfe Ihnen.”
“Das ist nicht nötig.”
“Nein, ich möchte meinen Beitrag leisten.”
“Ich weiß das zu schätzen, aber Sie müssen mir nicht bei allem helfen. Außerdem komme ich mit den Schneeschuhen besser weiter. Ich werde etwa in einer Stunde zurück sein.”
Lauren wollte etwas erwidern, doch er hob die Hand.
“Hören Sie, wenn Sie unbedingt was machen möchten, dann lasse ich Sie das zubereiten, was wir gefangen haben.”
Er grinste, als er ihren entsetzten Gesichtsausdruck sah. Er grinste tatsächlich! Es war ein ehrliches, unverblümtes Grinsen, das seinem schroffen Gesicht eine solche Attraktivität verlieh, dass Lauren schockiert war und ihr Herz einen Satz zu machen schien. Seine blendend weißen Zähne bildeten einen krassen Gegensatz zu seinem dunklen, unrasierten Gesicht. Und in seinen Augenwinkeln waren tatsächlich kleine Fältchen zu sehen.
“Keine Sorge, ich zeige Ihnen dann, wie das geht. Es ist ganz einfach. Sie können schon mal die Bohnen aufs Feuer stellen, damit sie weich werden.”
“Ich … äh … okay.” Sie hatte das Gefühl, soeben einen Treffer abbekommen zu haben, der ein Schwindelgefühl verursachte. Sie beugte sich vor und begann die Bindungen der Schneeschuhe aufzuschnüren.
Minuten nachdem Sam die Hütte erneut verlassen hatte, starrte sie immer noch zur Tür. Lieber Gott, was war bloß mit ihr los? Seit Collin sie vor zwei Jahren verlassen hatte, war sie Männern immer nur mit Gleichgültigkeit begegnet. Sie war einfach nicht interessiert gewesen. Sie hatte ihre Lektion gelernt, und die hatte ihr wirklich gereicht.
Aber jetzt hatte sie innerhalb weniger Stunden zweimal einen Schlag gespürt, als wäre sie vom Blitz getroffen worden. Und das alles nur wegen Sam. Sam, um Himmels willen! Ein sturer und misstrauischer Mann, der sie nicht einmal leiden konnte!
Nein, es würde zu nichts führen. Selbst wenn sie an einer romantischen Beziehung interessiert gewesen wäre -- und das war sie ganz entschieden nicht –, dann bestimmt nicht mit diesem Mann.
Das ist der Stress, sagte sie sich. Es war die albtraumhafte Situation, in der sie sich befand. Sie hatte darüber gelesen, dass Menschen unter Stress so handelten, wie es unter normalen Umständen niemals möglich gewesen wäre. Das musste es sein. Die schrecklichen Ereignisse der letzten Tage
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