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Zeugin am Abgrund

Zeugin am Abgrund

Titel: Zeugin am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ginna Gray
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hatten das ganz offensichtlich bei ihr bewirkt.
    Lauren war zu aufgewühlt, um sich auszuruhen, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte. Sie füllte den Kochtopf mit Wasser und gab die Bohnen dazu, dann wandte sie sich der Sache in ihrem Leben zu, die ihr am vertrautesten war und ihr wahren Trost spendete.
    Zwar gab es hier kein Klavier, aber sie konnte trotzdem üben. Als sie sich wieder auf den Schlafsack setzte und ein großes Stück Holz vor sich legte, wurde ihr klar, dass sie seit fast zwei Tagen keine Note mehr gespielt hatte. Das musste ein Rekord sein. Auch wenn sie krank gewesen war, hatte sie in der Vergangenheit jeden Tag wenigstens ein paar Stunden am Klavier gesessen.
    Das bewies, wie sehr ihr Leben aus den Fugen geraten war.
    Sie setzte sich im Schneidersitz hin und legte die Fingerspitzen auf den Holzklotz, schloss die Augen und begann zu spielen. Ein Stück ging fließend in das nächste über, während ihre Finger sich mal schnell, mal langsam, mal grazil, mal mit viel Kraft und Gefühl bewegten. Im Unterbewusstsein hörte sie die Musik.
    Auch wenn sie nur im Geist Klavier spielte, tauchte sie so sehr in die Musik ein, dass sie jegliches Gefühl für ihre Umgebung verlor. Sie merkte nicht, dass Sam zurückgekehrt war.
    “Was zum Teufel machen Sie da?” fragte er fassungslos.
    Sie zuckte zusammen und sah ihn mit großen Augen an. “Sam! Sie sind schon wieder da?”
    “Schon? Draußen ist es dunkel. Ich war fast eine Stunde länger unterwegs als erwartet. Ich habe mich beeilt, weil ich dachte, Sie würden sich wieder Sorgen um mich machen. Stattdessen machen Sie … Was machen Sie da eigentlich?”
    Selbstbewusst verzog sie den Mund. “Klavierübungen. Oh, sehen Sie mich ja nicht so an. Ich bin nicht verrückt. Man nennt das Visualisieren. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass ich an einem Flügel sitze.”
    “Wenn Sie es sagen.”
    “Nein, wirklich. Ich kann regelrecht die Tasten unter meinen Fingern fühlen und die Musik hören. Wenn wir früher von Konzert zu Konzert geflogen sind, habe ich das oft so gemacht.”
    “Das muss ja für die anderen Passagiere sehr unterhaltsam gewesen sein.”
    “Sie müssen das nicht so abfällig sagen. Es funktioniert! Es ist zwar nicht so gut wie Übungen an einem richtigen Klavier, das gebe ich ja zu. Immerhin ist es besser als nichts. Für eine Pianistin ist das tägliche Üben sehr wichtig, aber seit dem Unfall ist es für mich sogar unverzichtbar geworden. Sonst wäre meine Hand steifer, als sie es so schon ist, und dann könnte ich gar nicht spielen.”
    Er sah sie lange Zeit mit ausdrucksloser Miene an. “Und das ist Ihnen wichtig? Dass Sie spielen können? Obwohl Ihre Konzertkarriere beendet ist?”
    “Natürlich. Ich könnte mir nicht vorstellen, gar nicht zu spielen. Ich glaube, mein Leben hätte keinen Sinn, wenn ich nicht mehr spielen könnte.”
    Er betrachtete sie so lange, bis es ihr unangenehm wurde. Schließlich nickte er und ging um sie herum, um etwas am Kamin ablegen zu können. “Wir haben Glück. In zwei der Fallen haben wir etwas gefangen.”
    “Was ist das?” fragte sie und rümpfte die Nase.
    “Schneehasen. Ich habe ihnen draußen schon das Fell abgezogen. Wir rösten sie heute Abend auf dem Feuer, und einen hänge ich in die Ecke, damit er friert und wir für später noch was haben.”
    “Schneehasen? Sie meinen … Häschen? O nein, ich könnte kein Häschen essen. Völlig unmöglich. Ich esse etwas von unseren Vorräten.”
    “Sie essen den Hasen und damit basta! Wir müssen unsere Vorräte einteilen. Außerdem enthält Hasenfleisch viel Protein und Fett, und davon werden Sie einiges brauchen, wenn wir weitergehen. So dünn, wie Sie sind, haben Sie keine Fettreserven. Jetzt kommen Sie her, und ich zeige Ihnen, wie Sie ihn rösten müssen.”
    Widerwillig befolgte Lauren seine Anweisungen und versuchte nicht zu würgen, als sie sah, wie er seine Handschuhe auszog und das tote Tier auf einen Aststumpf drückte. Er bohrte das Ende eines gespaltenen Zweigs in eine Ritze am Boden des Kamins und legte den Spieß in die Gabelung.
    Lauren zuckte zusammen, als er ihren Handschuh abstreifte und ihre Hand um den Zweig legte. Wenn er es bemerkte, dann ließ er sich nichts anmerken. “Halten Sie den Hasen einfach nur über die Flammen und drehen ihn langsam, genau so”, erklärte er und zeigte es ihr, während seine Hand auf ihrer lag. “Sie müssen ihn nur immer weiter bewegen, klar?”
    “Hm …” Sie kam sich vor, als

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