Zeugin am Abgrund
sammelte ihren Mut, sah in seine dunklen Augen und bewegte sich Zentimeter für Zentimeter weiter nach links.
“So ist das gut. Ganz langsam. Das machst du gut. Komm noch ein Stück. Es ist nicht mehr weit, nur noch ein paar Schritte.” Während er sprach, bewegte er sich selbst ein Stück weiter nach links, damit sie nicht in Reichweite zu ihm kam. “Das machst du großartig. Weiter so. Noch ein Stück … nein, nicht nach unten! Sieh mich an, ja, genau. Braves Mädchen.”
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, so wie ein fürchterlicher Albtraum, der sie in seinem Griff hatte und nicht wieder loslassen wollte. Während sie sich Stück für Stück weiterbewegte und Sam sie zu jedem Schritt ermutigte, stieg der Vorsprung leicht an, was ihr Vorankommen zusätzlich erschwerte. Schließlich hatten sie es um die Krümmung in der Felswand geschafft und fanden sich nun in einem v-förmigen Abschnitt wieder, an dem zwei Formationen aufeinander trafen und der Vorsprung endete. Die Fuge im Fels war schroff und zerklüftet, aber zu ihrem Glück war er nach hinten geneigt und bot ihnen genügend Halt.
“Ich glaube, von hier aus schaffen wir es nach oben”, verkündete Sam und sah zu Lauren. “Bereit?”
Bereit? Hätte sie die Frage laut wiederholt, wäre ihm ihr fast hysterischer Tonfall aufgefallen. Bereit? Bei allem, was ihr heilig war, würde sie für so etwas nie bereit sein. Nicht in einer Million Jahre. Immerhin klammerte sie sich in hundert oder noch mehr Metern Höhe an eine steile Felswand.
Sie hatte solche Angst, dass sie kaum atmen konnte.
Sie wollte sich nicht bewegen, aber sie konnte auch nicht hier bleiben. Als wollte der Wind genau das betonen, setzte er genau in diesem Moment wieder ein und zerrte brutal an ihr. Sie hatte das Gefühl, er wollte sie von der Felswand reißen. Ihr blieb keine andere Wahl, also nahm sie all ihren Mut zusammen und brachte ein minimales Nicken zu Stande. “Be…reit.”
“Okay, es geht los.”
Sam streckte eine Hand aus und bekam einen zerklüfteten Vorsprung zu fassen, dann begann er zu klettern, wobei er immer wieder nach Stellen suchte, an denen seine Hände und Füße Halt finden konnten. Er befand sich gut drei Meter über ihr, als sich das Seil zu straffen begann.
“Komm, Baby, wir haben es fast geschafft. Nur noch ein kleines Stück.”
Lauren wollte schlucken, aber ihre Kehle war wie ausgedörrt.
“Greif mit der rechten Hand nach oben. Über deinem Kopf ist ein Stück Fels, an dem du dich gut festhalten kannst.”
Sie presste die Lippen aufeinander und atmete tief durch. Ein Beben ging durch ihren ganzen Körper. Da sie beide Arme weit ausgebreitet hatte, konnte sie sich kaum mit den Fingerspitzen festhalten, doch der Gedanke, diesen minimalen Halt aufzugeben, machte ihr Angst. Sie war nicht sicher, ob sie dazu in der Lage war.
“Komm schon, Lauren. Das ist die einzige Möglichkeit.”
Sie wimmerte leise und hielt die Augen fest geschlossen, aber nach einer Weile bewegte sie ihre rechte Hand langsam nach oben. Tatsächlich fanden ihre Finger ein Stück über ihrem Kopf eine scharfkantige Felsnase. Seit sie mit dem Aufstieg begonnen hatten, war dies das erste Mal, dass sie wirklich das Gefühl hatte, einen sicheren Halt zu haben. Sie umklammerte den Fels so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Langsam suchte sie auch mit der anderen Hand Halt und fand eine Stelle.
“Jetzt zieh dich nach oben und schieb dein Bein über den Rand”, redete Sam auf sie ein und zog an dem Seil, um sie zu unterstützen.
Lauren wandte alle Kraft auf und machte das, was Sam ihr sagte. Sie stemmte sich nach oben und kämpfte gegen ein Schaudern an, als ihre Füße nicht länger den schmalen Vorsprung berührten.
“Okay, jetzt halt dich an der Felskante links über dir fest.”
Während Sam ihr für jede Bewegung eine Anweisung gab, näherte sich Lauren allmählich dem Felsrand. Sie konzentrierte sich immer nur auf eine Bewegung und richtete ihre gesamte Kraft und Aufmerksamkeit ausschließlich auf das, was sie in diesem Moment machte. Sie nahm nichts davon wahr, wie nah sie ihrem Ziel waren, bis Sam ein lautes Stöhnen von sich gab. Sie sah nach oben und bekam noch mit, wie er sich über die Felskante zog.
Panik wollte von ihr Besitz ergreifen, als er einen Moment lang aus ihrem Blickfeld verschwand. Dann schob er den Kopf über die Felskante und grinste ihr zu. Der Triumph stand ihm ins Gesicht geschrieben. “Geschafft. Und jetzt du. Hak deine Finger in diese
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