Zeugin am Abgrund
anderes machen zu können, als auf ihn einzuschlagen. “Du hast mein Leben aufs Spiel gesetzt! Und für was? Wahrscheinlich wollten uns die Leute retten, so wie ich es gesagt habe”, stieß sie zwischen den Hieben hervor, die sie austeilte. Die Angst, die sich über Tage hinweg angestaut hatte, entlud sich innerhalb weniger Augenblicke in ihrem Trommelfeuer. “Wenn du nicht so unvernünftig wärst, dann wären wir schon längst mit dem Hubschrauber hier weggebracht worden! Aber nein, du konntest ja niemandem vertrauen, also mussten wir auf diesen blöden Berg klettern!”
“He, hör jetzt endlich auf, bevor ich dir wehtue.”
“Ha! Versuch’s doch!”
Sam packte ihre Handgelenke, aber im nächsten Moment begann Lauren zu zappeln und zu treten. Als sie ihm mit ihrem Knie zu nah kam, legte er rasch seine Beine um sie und rollte sie auf den Rücken. Er drückte ihre Hände zu beiden Seiten ihres Kopfs tief in den Schnee und hielt sie mit seinem Gewicht auf den Boden gepresst.
“Du kleine Wildkatze.” Er betrachtete ihr wütendes Gesicht. “Kannst du für eine Sekunde Ruhe geben, damit ich …”
“Nein!” Ruckartig bewegte sie die Hüften. “Geh runter von mir, du Esel! Ich will ni…”
Er drückte den Mund auf ihre Lippen und zwang sie, ihre Hasstirade zu unterbrechen.
Zutiefst geschockt, erstarrte Lauren und sah ihn mit aufgerissenen Augen an, als hätte diese Berührung einen Kurzschluss in ihrem Gehirn verursacht. Die Reaktion hielt jedoch nur einen kurzen Moment an. Dann drang erneut ihre Wut mit aller Leidenschaft an die Oberfläche. Ihr Herzschlag wechselte in einen donnernden Galopp, und dann erwiderte sie seinen Kuss mit der gleichen Heftigkeit und Leidenschaft.
Es war ein heißblütiger, gieriger, alles verzehrender Kuss -- eine Eruption aus Gefühl und Verlangen. Sie wichen nicht voreinander zurück, sondern forderten mehr, um das zu bekommen, was sie haben wollten.
Sam ließ ihre Handgelenke los, um eine Hand um ihr Gesicht zu legen, während die andere nach unten zu ihren Brüsten wanderte. Als er merkte, dass der wuchtige Parka im Weg war, gab er einen frustrierten Laut von sich.
Lauren schob seine Kapuze nach hinten, damit sie ihm durchs Haar fahren konnte. Die vollen schwarzen Strähnen fühlten sich zwischen ihren eiskalten Fingern wie warme Seide an.
Sie drückten sich aneinander, angetrieben von einem Verlangen, das sie nicht verstanden und das sie auch nicht erwartet hatten. Es war etwas Instinktives, Verzweifeltes, Unwiderstehliches, etwas Urtümliches.
Das plötzliche Aufflammen heftigster Emotionen hielt einige Sekunden lang an, doch dann wurde aus dem Kuss etwas Tieferes, Stärkeres -- eine heiße, sengende Lust, die so intensiv war, dass sie Lauren die Luft raubte und ihr das Gefühl gab dahinzuschmelzen.
Sie klammerte sich an Sam und erwiderte den Kuss mit einer brodelnden Leidenschaft, die seiner eigenen entsprach. Zugleich war sie auf eine gewisse Weise schockiert und angewidert.
So etwas hatte sie als Letztes erwartet und gewollt. Sam mochte sie nicht einmal, um Himmels willen. Er war ihr ebenfalls ziemlich egal, von praktischen Erwägungen abgesehen. Er war ein Mann, bei dem es hervorragend war, wenn man ihn in einer Krise auf seiner Seite hatte. Aber er war zugleich hart, kühl und distanziert, ja, regelrecht unfreundlich, und seine Meinung von ihr hätte wohl kaum noch schlechter sein können.
Trotzdem konnte sie sich nicht dazu durchringen, das zu stoppen, was vor sich ging. Die Lust war zu groß, das Verlangen zu verführerisch.
Sam stöhnte auf. Er hatte das Gefühl, dass seine Welt aus den Fugen geraten war. Nichts war so, wie es sein sollte, und er hatte eine Vorahnung, dass es auch nie wieder so sein würde. Diese Möglichkeit machte ihm Angst.
Der Kuss war etwas Impulsives gewesen, er war passiert, bevor er sich hatte zurückhalten können. Er war aus der Wut heraus entstanden, eine Bestrafung, vielleicht sogar eine Beleidigung für Lauren und für ihn nichts weiter als ein bedeutungsloser Zwischenfall. Die Art, wie sie sich anfühlte, ihre weichen Lippen, die Gefühle, die ihn durchfluteten … das alles erschütterte ihn bis in seine Seele und machte ihn schwach. Und er wollte mehr davon.
Das ist verrückt, sagte er sich, als sich ihre Zungenspitzen berührten. Sie hatten gar keine Zeit für so etwas. Sie mussten dafür sorgen, dass sie von hier fortkamen.
Obwohl ihm diese Gedanken durch den Kopf schossen, vertiefte er den Kuss und war nicht in der
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