Zeugin am Abgrund
dass man die Hütte leichter vom Highway erreichen kann. Das heißt nicht, dass der Highway gleich nebenan liegt. Wenn man nicht wandert oder auf Skiern unterwegs ist, kann man im Winter nur per Schneemobil oder Hubschrauber in dieses Tal gelangen. Außerdem haben wir keine andere Wahl. Hast du nicht gemerkt, dass von Westen bereits der nächste Sturm aufzieht?”
“Was?” Lauren drehte rasch den Kopf in die Richtung, in die er zeigte. Eine tief hängende Wolkenfront hatte sich bereits über die Berggipfel in der Ferne geschoben und war auf dem Weg zu ihnen. Sie fühlte unbändige Angst in sich aufsteigen.
“Wir müssen irgendwo unterkommen, und unsere Verfolger ebenfalls”, redete Sam ungerührt weiter. “Ich möchte aber, dass wir es diesmal etwas bequemer haben. Während sich diese Gauner alles abfrieren, werden wir in einer gemütlichen Berghütte abwarten. Und jetzt komm.” Er gab ihr das Zeichen zum Aufbruch. “Wir bleiben dicht bei den Bäumen”, rief er ihr über die Schulter zu. “Quer durchs Tal ginge es zwar viel schneller, aber wir sollten nicht das Risiko eingehen, völlig ohne Deckung zu sein.”
Um Mittag herum setzte wieder Schneefall ein, der Sam diesmal jedoch nicht missfiel. “Mit etwas Glück verwischt der Schnee unsere Spuren, ehe sie es bis hierher geschafft haben. Das könnte uns noch etwas Spielraum geben.”
Es war Nachmittag, als sie das Tal endlich umrundet hatten. Lauren spürte die Anstrengungen der letzten beiden Tage in jeder Faser ihres Körpers. Obwohl der Höhenunterschied zwischen dem Tal und dem Pass nur gut dreihundert Meter betrug, begannen beim Aufstieg ihre Kräfte zu schwinden.
Rücken, Beine und Füße schmerzten, und wenn sie sich nicht irrte, hatte sie sich Blasen gelaufen. Sie war so erschöpft, dass sie das Gefühl hatte, ihr Kopf sei in Watte gepackt, und sie brachte kaum noch die Kraft auf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie spürte nur noch die Kälte, die ihr durch und durch ging.
Je höher sie stiegen, umso kälter wurde es. Gleichzeitig schneite es immer kräftiger. Trotzdem verlangsamte Sam sein Tempo nicht. Lauren schleppte sich hinter ihm her und fühlte sich bei jedem Schritt elender. Als sie den Pass endlich erreicht hatten und mit dem Abstieg begannen, stolperte sie fast nur noch blindlings drauflos.
Sam beobachtete sie mit wachsender Sorge aus den Augenwinkeln. Sie steht kurz vor dem Kollaps, dachte er, als er sah, wie bleich sie war und wie unsicher sie durch den Schnee stapfte.
“Du machst das großartig, aber jetzt gib bloß nicht auf”, redete er auf sie ein. “Ich weiß, dass du hundemüde bist, doch wir haben nur noch ein kleines Stück vor uns. Die Hütte liegt gleich am Fuß dieses Hangs. Das schaffst du.”
“Mach .. dir … keine … Sorgen … um mich. Ich schaffe … das schon.”
“Natürlich. Du bist eine zäh … hoppla!”
Lauren stolperte und wäre gestürzt, wenn er sie nicht aufgefangen hätte. “Ganz langsam. Denk an mein Herz. Das würde es nicht überleben, wenn du noch mal hinfällst.” Er nahm ihr den Matchbeutel ab und hängte ihn sich über die Schulter, dann legte er ihr den Arm um die Hüfte und zog sie an sich. “Komm, lehn dich an mich.”
“Nicht … nötig … es … geht … schon”, beteuerte sie mit schleppender Stimme. “Ich schaff das … schon allein.”
“Sicher”, sagte er belobigend. “Hör zu. Unabhängig zu sein ist eine gute Sache. Aber jetzt nicht der richtige Augenblick, es zu beweisen. Du machst alles nur noch schwieriger. Also gib es auf, weil wir das hier auf meine Tour machen.”
“Mir geht … es gut. Ich brauche … keine …” Ihre Wange berührte nur kurz seine Brust, trotzdem schloss Lauren mit einem wohligen Stöhnen die Augen und lehnte sich an ihn.
“Wie kann man nur so stur sein”, brummte Sam mürrisch.
Auch wenn sie sich alle Mühe gab, wach zu bleiben, trug er sie den Rest des Weges mehr, als dass sie selbst ging.
Der kräftige Wind steigerte sich in dem Moment zu einem heftigen Schneesturm, als sie sich den Weg ins Tal bahnten, und heulte wie eine Todesfee. Der Schnee fiel so dicht, dass er wie eine feste weiße Wand um sie herum wirkte.
Sam kämpfte sich durch den eisigen Mahlstrom, während er Lauren fest an sich drückte. Er verfluchte den Sturm, gleichzeitig war er dankbar für den Wetterumschwung. Wenn es auf der anderen Seite des Passes genauso heftig schneite, standen die Chancen gut, dass ihre Verfolger die Fährte verloren hatten. Aber
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