Zieh dich aus, du alte Hippe
Zentrum.
Die Frau geht einsam durch die Straßenschlucht. Weit am Horizont sieht sie ihre Mietskaserne warten. Halb widerwillig, halb erwartungsvoll geht sie daher. Heute ist sie besonders aufgeregt, sie hat die Ereignisse der letzten Nacht noch nicht verdrängt. Ein Röcheln weckt sie aus ihrer Umnachtung, die sie nach jedem Mord befällt. Das unterscheidet sie von anderen Mördern, die danach beruhigt sind. Sie weiß nichts von ihrem Tun, deshalb wundert sie sich über manch merkwürdige Sachen. Wie kommt zum Beispiel der Herrenanzug in ihren Schrank? Das Röcheln ist der Kommissar Schneider. Er liegt gekrümmt im Rinnstein in einer riesigen Blutlache. Die Frau bemerkt ihn erst, alssie direkt vor ihm steht. Ein Schrei der Überraschung fährt aus ihrem Mund. Sie schreckt zurück, ihre Augen weiten sich vor Angst. Schnell dreht sie sich fahrig um, ob sie auch wirklich allein ist. Keine Menschenseele zu sehen. Sie beugt sich über den Kommissar und flüstert ihm ins Ohr: »Hallo, hallo, was ist mit Ihnen?« Der Kommissar kann nicht antworten. Er ist schwer angeschlagen. Die Kugel hat millimetergenau das Herz verfehlt. Seine Rettung war die Zahnklammer, die er zum Richten seiner Zähne immer bei sich führt. Nur nachts tut er sie rein, aber meist legt er sie heimlich unter sein Kopfkissen, damit seine Frau denkt, er hat sie an. Er bekommt sonst totalen Ärger. Der Kommissar wird wach. Die Frau hatte ihn mitgenommen und ihn verbunden. Die Kugel steckt zwar immer noch, doch ist es ungefährlich. Nur weh tut es. Doch der Kommissar ist Schlimmeres gewohnt, hat er sich doch vor ein paar Jahren neue Haare einpflanzen lassen. Jedes einzelne Haar mußte praktisch wie mit einem Spaten in die Kopfhaut eingepflanzt werden, und zwar ohne Betäubung. Dazu mußte vorher die Kopfhaut aufgerauht werden mit einer scharfen kleinen Harke.
Er schlägt die Augen auf und sieht, wie eine fremde Person sich über ihn beugt. Als diese Person bemerkt, daß der Kommissar wach ist, klatscht sie in die Hände. »Aufstehen, aufstehen! Schönes Wetter draußen!« Sie reißt die Vorhänge auf. Der Kommissar sieht auf die nächste Häuserwand. Er ist immer noch in Koquinox. Eine Tasse Kakao bringt ihn wieder auf die Beine. Zunächst einmal wird er sich bei der Frau bedanken. Er gibt ihr zum Dank eine Autogrammkarte von sich.
Zurück in seinem Büro, wird der Kommissar das Gefühl nicht los, dem Mörder ein zweites Mal begegnet zu sein. Das er ste Mal fällt ihm nicht ein. Aber das zweite Mal war gestern, an Silvester.Überhaupt, eine merkwürdige Silvest ernacht. Früher hatte man Raketen abgeschossen und gefeiert, jetzt ist es so, als gäbe es den Jahreswechsel nicht. Alles läuft sei nen gewöhnlichen Gang. Die Welt will sich nicht weiter drehen. Sie hat Angst davor, daß eines Tages die letzte Drohung kommt. Die Phantombilder, die der Polizeizeichner heute fertiggestellt hat, sind interessant. Zwei große Bleistiftzeichnungen hängen in Sehhöhe gegenüber vom Schreibtisch des Kommissars. Der Kommissar liest schon den ganzen Morgen zwischen den Strichen der Zeichnung, ob noch mehr daraus zu erkennen ist. Kein Zweifel, er kennt das Gesicht. Doch woher? »Tee!?« Ein Gesicht wird um die Ecke geworfen. Es ist die Polizeisekretärin, sie hat Tee gemacht. Er dampft aus der Kanne. Der Kommissar schüttet sich ein Taschen voll. Er schlabbert wieder. Schlürfend, weil noch heiß, sabbelt er aus der Sammeltasse. Der Tee schmeckt außerordentlich lecker. »Mhhhl Lecker!« und »Frau Weseloskie! Lecker! Lecker!« Der Kommissar ist außer sich vor Vergnügen. Er trinkt die ganze Kanne in wenigen Minuten leer. Der Zeichner kommt ein drittes Mal rein und heftet ein Bild an die Wand. Diesmal mit einer anderen Frisur. Der Kommissar hatte ihm aufgetragen, eine Damenfrisur mit Dauerwelle einzuarbeiten. Und jetzt springt der Kommissar auf. Plötzlich erkennt er das Gesicht. Es ist die Frau, die ihn in Koquinox gefunden hat! Zufällig kommt der Bürgermeister in dem Moment den Kommissar besuchen. Er steht wie eine Erscheinung im Türrahmen. Der Kommissar sieht eine ungeheure Ähnlichkeit zwischen den Bildern und dem Bürgermeister. »Herr Bürgermeister, Sie sind verhaftet! Sie sind der Mörder! Ich dachte erst, hier die auf dem Bild ist es, aber da sind Sie gekommen. Sie sind der Person noch ähnlicher. Abführen!« Der verdatterte Bürgermeister, der noch kein einziges Wort geredet hat, wird von vier Polizisten abgeführt. Er kommt in eine winzige Zelle, wo kein
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