Ziel erfasst
zuwandten. Einer betätigte den Schalter auf einer Konsole. In der Zelle des Emirs war jetzt ein lautes akustisches Signal zu hören. Gleichzeitig öffnete sich unterhalb des Fensters eine kleine Klappe. Der Emir ignorierte das Ganze und setzte den Anstarr-Wettbewerb mit seinen Wächtern fort. Ein paar Sekunden später hörte er ein weiteres Signal. Kurz darauf kam die verstärkte Stimme des am Tisch sitzenden Mannes aus einem Lautsprecher, der in die Zellendecke oberhalb des Betonbettes eingelassen war.
»Legen Sie Ihre Decke in die Klappe.«
Der Emir rührte sich nicht.
Und noch einmal: »Legen Sie Ihre Decke in die Klappe.«
Der Gefangene zeigte keinerlei Regung.
»Letzte Gelegenheit.«
Jetzt erst folgte der Emir der Aufforderung . Er hatte eine kleine Widerstands-Show veranstaltet, was unter diesen Umständen schon als Sieg zu werten war. Die Männer, die ihn in den ersten Wochen nach seiner Gefangennahme in ihrer Gewalt hatten, waren schon lange verschwunden. Seitdem testete Yasin immer wieder die Entschlossenheit und Standhaftigkeit seiner Wächter. Er nickte langsam und legte seine Decke in die Klappe, die sich sofort wieder schloss. Auf der anderen Seite holte einer der beiden direkt vor dem Fenster stehenden Wächter sie heraus, entrollte sie, überprüfte sie genau und trug sie dann zum Wäschekorb. Er ging jedoch an diesem vorbei und warf die Wolldecke in einen Plastikmülleimer.
Der Mann am Tisch sprach jetzt wieder in das Mikrofon hinein: »Du hast gerade deine Decke verloren, 09341-000. Provozier uns nur weiter so, du Arschloch. Wir lieben dieses Spiel und können es jeden einzelnen verdammten Tag spielen.« Die Übertragung endete mit einem lauten Klick, während der große Wärter zum Glas zurückkehrte und sich wieder neben seinen Partner stellte. Schulter an Schulter standen sie jetzt regungslos da und starrten durch die Augenlöcher ihrer Masken den Mann auf der anderen Seite des Fensters an.
Der Emir wandte sich ab und kehrte zu seinem Betonbett zurück.
Er würde diese Decke vermissen.
7
D ie fünfundzwanzigjährige Melanie Kraft erlebte gerade eine außergewöhnlich schlechte Woche. Die Sachbearbeiterin hatte erst vor zwei Jahren ihr Stu dium an der American University in Washington mit einem Bachelor im Fach »Internationale Studien« und einem Master in amerikanischer Außenpolitik abgeschlossen. Zusammen mit der Tatsache, dass sie in ihrer Teenagerzeit als Tochter eines Air-Force-Attachés fünf Jahre in Kairo gelebt hatte, machte sie das zu einer geeigneten Kandidatin für einen Job bei der CIA. Dort arbeitete sie im Direktorat für Nachrichtenbeschaffung in der Abteilung für Analysen über den Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika, wo sie vor allem als Ägyptenspezialistin galt. Ms. Kraft war hochintelligent und ehrgeizig. Deshalb widmete sie sich über ihre Alltagspflichten hinaus gelegentlich anderen, weiterführenden Projekten. Aber genau diese Bereitschaft, sich mit übergreifenden Dingen zu befassen, drohte jetzt eine Karriere zu beenden, die erst vor zwei Jahren begonnen hatte.
Melanie war es gewohnt zu gewinnen. In den Sprachkursen in Ägypten, als Star ihrer Highschool-Fußballmannschaft und während ihres Grundstudiums stand sie ständig in der ersten Reihe und hatte immer exzellente Noten. Ihr Fleiß und ihre harte Arbeit verschafften ihr die Anerkennung der Professoren und danach ausgezeichnete Beurteilungen bei der CIA. Ihr gesamter Erfolg hatte jedoch heute vor einer Woche schlagartig ein vorläufiges Ende genommen, als sie ihrem Vorgesetzten eine wissenschaftliche Abhandlung vorlegte, die sie in ihrer Freizeit verfasst hatte. Der Titel lautete: »Eine Einschätzung der politischen Rhetorik der Muslimbruderschaft im Englischen und in Masri«. Sie hatte dazu neben den englischsprachigen alle in ägyptischem Arabisch (Masri) verfassten Websites durchkämmt, um den wachsenden Widerspruch zwischen den öffentlichen Beziehungen der Muslimbrüder mit dem Westen und ihrer heimischen Rhetorik aufzuzeigen. Es war ein brisantes Dokument, dessen Ergebnisse jedoch gut durch Quellenangaben abgesichert waren. Sie hatte monatelang ihre Abende und Wochenenden damit verbracht, falsche Profile arabischer Männer zu kreieren und zu benutzen, um Zugang zu den passwortgeschützten islamistischen Internetforen zu bekommen. Sie hatte in diesen virtuellen »Cyber-Cafés« das Vertrauen zahlreicher Ägypter gewonnen, die mit ihr die Ansprachen der Muslimbrüder in den Koranschulen
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