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Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Titel: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Vanier , Philippe Pozzo di Borgo , de Laurent Cherisey
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wird. Die Behinderung an sich macht nicht glücklich, aber sie birgt einen eigenen Reichtum, der nur durch die Beziehungen zum Anderen zum Vorschein kommen kann.
     
    Die Signale einer Gesellschaft, die zu Höchstleistungen anspornt, ermuntern nicht gerade dazu, die eigene Behinderung in der Öffentlichkeit zu zeigen.
    In dem Selbstbild behinderter Menschen ist schon Ausgrenzung enthalten. Aus Scham, dass sie nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, ziehen sie sich entweder zurück oder verfallen in aggressives Verhalten. Obwohl sie das natürliche Bedürfnis nach Zuneigung verspüren, ziehen manche Menschen mit Behinderung sich lieber in die Einsamkeit zurück, als Ablehnung zu riskieren. Für jemanden, der seit jungen Jahren behindert ist, wiegt das besonders schwer. Traurigerweise bestätigen die Statistiken, dass körperliche Behinderungen, wenn sie vor dem 40. Lebensjahr auftreten, feste Beziehungen erst spät entstehen lassen. 17
     
In Deutschland sind Männer und Frauen mit Behinderung im Alter zwischen 25 und 45 Jahren eher ledig als Menschen ohne Behinderung dieser Altersgruppe: Der Anteil der Ledigen unter den Menschen mit Behinderung beträgt 54 Prozent und bei Menschen ohne Behinderung 41 Prozent. Mit steigendem Alter nähern sich die Quoten – insbesondere bei den Männern – allerdings an.
     
    Zudem reduziert sich die Wahrscheinlichkeit einer Partnerschaft, ganz besonders für Frauen. Wie soll man jemanden rumkriegen, wenn man so lädiert ist, fragte ein junges Mädchen Philippe, nachdem sie zwei Jahre im selben Rehazentrum verbracht hatten: »Das herrschende Schönheitsideal war schon vor meinem Unfall schwer zu erreichen, aber jetzt komme ich mir vor wie ein Stück Abfall, reif für die Tonne.«
    Die Behinderung führt zu realen Ängsten, weil man sich verlassen fühlt, ungeliebt, ohne festen Platz in der Familie, der Gemeinschaft oder der Gesellschaft. Man sucht nach einem Schuldigen, und wenn man keinen findet, gibt man sich selbst die Schuld.
    Was das angeht, bemerkt Philippe Pozzo di Borgo, habe er sich immer davor gehütet, den nicht behinderten Menschen übelzunehmen, dass sie … nicht behindert sind.
     
    Wenn ein behinderter Mensch, der schon an sich selbst verzweifelt, auch noch sein Umfeld mit Vorwürfen überhäuft und für sein Leid verantwortlich macht, hilft das in keiner Weise. Philippe geht noch einen Schritt weiter:
     
Wir sind darauf angewiesen, dass die Menschen auf uns zukommen, weil die Behinderung uns in den meisten Fällen daran hindert, auf sie zuzugehen. Schlagen Sie ihnen also nicht die Tür vor der Nase zu, wenn sie bereit wären, sie zu öffnen. Legen Sie Ihren Teil des Weges zurück. Bleiben Sie freundlich. Versuchen Sie weiter, die anderen für sich einzunehmen, selbst wenn Sie nicht über die herkömmlichen Mittel verfügen, damit diese Lust bekommen, auf Sie zuzugehen.
     
    Menschen, die leiden, egal unter welcher Form von Behinderung, neigen dazu, sich zu vernachlässigen. Ihr Leid tritt dadurch erst recht deutlich zutage, und sie wirken weniger anziehend. Wir interessieren uns nicht von allein für sie und bleiben lieber in der eigenen Welt, unter den eigenen Freunden und in einer angenehmeren materiellen Situation. Wir entfernen uns von diesen Menschen, wie auch sie sich, im Kreis des Leidens gefangen, von uns entfernen.
     
    Menschen mit Behinderung sind vielleicht nicht immer in der Lage, den Anforderungen der Gesellschaft, was Produktivität, Aktivität und Intelligenz betrifft, zu entsprechen; dennoch haben sie ein unglaubliches Bedürfnis nach Beziehungen und Freundschaft.
    Der erste Schritt, um diese Erwartung zu erfüllen, besteht darin, sie mit anderen Augen zu sehen.
    Dafür muss man sich der Alterität, der »Andersheit«, öffnen, muss akzeptieren, was sich von einem selbst unterscheidet. Mit Hilfe der Etymologie kann man sich oft den tieferen Sinn eines Wortes erschließen. Alterität kommt vom Spätlateinischen alteritas und bedeutete ursprünglich Unterschied. Im 12. Jahrhundert jedoch nahm das Wort eine philosophische Dimension an, die der Veränderung, Wandlung. Und genau das wird von uns verlangt, wenn es darum geht, uns dem Anderen zu öffnen: Wir müssen hinnehmen, dass wir dabei verwandelt werden, und uns auf das Risiko der Begegnung einlassen.
    Die Veränderung geschieht manchmal unbewusst. In einer Szene des Films Ziemlich beste Freunde rammt der gewalttätige Driss, ohne zu zögern, einem Autofahrer den Kopf gegen ein

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