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Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Titel: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Vanier , Philippe Pozzo di Borgo , de Laurent Cherisey
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wir brachen alle in lautes Gelächter aus!
Die Menschen, die wir in der Arche aufnahmen, sprachen nicht dieselbe Sprache wie ich, der ich aus der Welt der Wirtschaft, Philosophie und Politik kam. Ihre Reden wurden immer wieder von Gelächter unterbrochen, sie lachten über lauter Kleinigkeiten, denen ich vorher keinerlei Beachtung geschenkt hätte. Von Anfang an nutzten wir jeden Anlass zum Feiern, seien es nun Geburtstage, der Besuch von Gästen oder die Begrüßung von Neuankömmlingen. Wir hatten gute Laune – ohne Alkohol und Drogen. Und ich ließ mich von diesen Begegnungen wirklich verwandeln, weil ich durch sie mein kindliches Gemüt wiederentdeckte.
     
    Den Menschen, der sich von uns unterscheidet, anders zu betrachten bedeutet, dass wir uns unseren Schwächen ebenso stellen wie unserer Angst vor allzu großer Ähnlichkeit mit jemandem, der von der Norm abweicht. Eine Szene im Film macht dies besonders deutlich, nämlich die, als Philippe erklärt, er werde Driss einstellen, den im Prinzip ungeeigneten jungen Mann mit der wenig glorreichen Vergangenheit, weil dieser ihn als Menschen betrachte und nicht durch diesen bestimmten Blick auf die Behinderung reduziere.

DIE BEHINDERUNG SCHÜCHTERT SIE EIN?
     

Gehen Sie schrittweise vor
     
    Cerrie Burnell ist eine attraktive Frau um die dreißig. Groß, schlank, mit lockigem, schulterlangem blondem Haar, war sie die ideale Besetzung als Moderatorin der täglich ausgestrahlten B BC-Sendung CBeebies für ein sehr junges Publikum. Als Mutter eines vier Monate alten Babys wusste sie genau, wie sie ihre jungen Zuschauer mit ihrer sanften Stimme fesseln konnte.
    Doch das 2009 gestartete Programm war kaum einen Monat alt, da wurde die BBC mit (fast ausschließlich anonymen) Briefen überschüttet, in denen Eltern sich beschwerten, dass die Moderatorin ihren Kindern mit ihrer Behinderung Angst mache.
    Cerrie Burnells rechter Arm endet auf der Höhe des Ellbogens.
    Ein Vater schrieb, seine zweijährige Tochter dürfe sich die Sendung nicht ansehen, weil er fürchtete, dass sie beim Anblick von Cerries Arm Albträume bekäme. Einige Eltern beklagten sich darüber, dass ihre Kinder sie mit ihren Fragen zwangen, über das Thema Behinderung zu sprechen, »bevor sie so weit waren«. Jemand anders behauptete einfach, es sei doch allseits bekannt, dass Kinder Angst vor behinderten Menschen hätten.
    Cerrie Burnell selbst aber berichtet von ganz anderen Reaktionen der Kinder auf ihre fehlende Hand: 20
     
Auf der Straße kommen jeden Tag Kinder zu mir und fragen mich, was mit meinem Arm los ist. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie sich fürchten, sondern eher, dass sie neugierig sind. Ich nehme mir immer die Zeit, ihnen zu erklären, dass ich bereits so geboren wurde, mit nur einer Hand. Denn das ist es, was sie wirklich wissen wollen – warum ich anders bin als sie. Dann ist für sie das Thema erledigt. Es steht mir nicht zu, Eltern beziehungsweise ihren Wunsch, mit ihren Kindern über behinderte Menschen zu sprechen oder nicht, zu beurteilen. Das ist Privatsache, und jeder sollte es so handhaben, dass er sich damit wohl fühlt. Trotzdem hoffe ich, dass meine Anwesenheit in einer Sendung für junge Zuschauer dazu anregt, die Behinderung zu thematisieren, und dass die Menschen in Ruhe bei sich zu Hause darüber reden.
     
    Cerrie Burnell verlor ihre Stelle nicht, und sie bekam sogar noch viel mehr Briefe, in denen sie gebeten wurde, zu bleiben. Für Sir Bert Massie, der sich seit vierzig Jahren für die Integration von Menschen mit Behinderung einsetzt, liegt das Problem bei den Eltern, nicht bei den Kindern: »Erwachsene mit Vorurteilen oder einer negativen Einstellung zur Behinderung projizieren ihre eigenen Ängste auf die Kinder.«
     
    Um unsere negative Sichtweise zu überwinden, müssen wir akzeptieren, dass die Behinderung uns verstört und betroffen macht. Denn, wie Philippe Pozzo di Borgo ironisch sagt: »Wir Behinderten sind nicht immer besonders ansehnlich.«
    Manchmal fühlen wir uns unbehaglich, weil wir Angst haben, uns ungeschickt anzustellen. Bevor er sich mit Philippe Pozzo di Borgo traf, um an dem Film zu arbeiten, so erzählt Omar Sy, habe er sich Gedanken darüber gemacht, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte. Er fürchtete, ihn mit seinen Blicken zu verletzen. 21
    Wie verhalte ich mich respektvoll, wenn ich einen behinderten und möglicherweise hilfsbedürftigen Menschen auf der Straße sehe? Soll ich ihm meine Unterstützung anbieten oder ihn

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