Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Titel: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Vanier , Philippe Pozzo di Borgo , de Laurent Cherisey
Vom Netzwerk:
ignorieren, um ihn nicht vor aller Augen an seine Behinderung zu erinnern? Keine leichte Entscheidung, ist man doch hin- und hergerissen zwischen seinem Gewissen einerseits und Gefühlen der Abneigung oder der Angst vor Zurückweisung andererseits.
    Zu allem Überfluss könnte derjenige, dem ich meine Hilfe anbiete, sie ja auch ablehnen. Eine leise innere Stimme will mir einreden, es gar nicht erst zu versuchen: »Sonst machst du dich noch lächerlich, wenn er dich auf offener Straße abblitzen lässt.«
    Wir sind geneigt, einen Menschen mit Behinderung nicht als vollwertig zu betrachten und ihm das Recht auf eine eigene Meinung abzuerkennen. Das Recht zu sagen: »Nein, ich will nicht«, das Recht auf einen eigenen Charakter, auf einen eigenen Geschmack, auf eigene Bedürfnisse. Wir verwehren ihm das Recht, kompetent zu sein, unleidlich oder gut gelaunt, fröhlich oder traurig, als würde dieser Mensch einzig und allein aus seiner Behinderung bestehen und sich über nichts anderes Gedanken machen. Wenn er es sich zudem herausnimmt, nicht mit ausreichender Dankbarkeit auf unser ach so großzügiges Angebot zu reagieren, machen wir ihm einen Vorwurf daraus. Und wenn wir zwei Menschen, der eine behindert, der andere nicht, begegnen, wenden wir uns im Allgemeinen lieber an den Letzteren – ein deutliches Indiz dafür, wie schwer es uns fällt, auf jemanden zuzugehen, der nicht »normal« ist.
     
    Mit dem Anderen umzugehen will gelernt sein.
     
    Unser Verhalten nimmt sehr früh schon feste Formen an und folgt den gültigen Normen. Unsere Angst vor der Verletzlichkeit treibt uns dazu, einen Schutzwall zu errichten, der uns von denen trennt, die nicht unseren Kriterien entsprechen.
    Was über Jahre hinweg entstanden ist, kann nur schrittweise abgebaut werden. Es dauert lange, den Schutzwall abzureißen.
    Wir dürfen nicht glauben, dass freiwilliges Engagement unsere Hemmungen wie mit dem Zauberstab auflösen würde. Jean Vanier erinnert sich an die Gründungszeit der Arche, als er mit den besten Absichten einiges unternahm, gegen das die ersten Bewohner der Arche, Raphaël und Philippe, sich mit Händen und Füßen wehrten. Dass sie geistig behindert waren und in den Augen der Welt als vollkommen unfähig galten, störte sie wenig – sie hatten trotzdem keine Lust, sich von einem an Gehorsam gewöhnten Marineoffizier herumkommandieren zu lassen. Auch sie hatten Wünsche und ließen sich nicht daran hindern, sie zu äußern, ob das nun in Jeans Konzept passte oder nicht. Nicht zuletzt hatten die Bewohner des Dorfes, in dem die erste Arche-Gemeinschaft entstand, eigene Vorstellungen.
     
Heute ist mir klar, dass es falsch war, die Gemeinschaft so schnell im Dorf integrieren zu wollen, ohne die Sorgen und Berührungsängste seiner Bewohner zu berücksichtigen. Es verletzte mich, dass manche es ablehnten, Menschen mit einer Intelligenzminderung im Ort aufzunehmen, dass sie nicht begreifen wollten, wie wichtig es ist, sie einzugliedern. Zum einen habe ich die Bedürfnisse der Bewohner von Trosly-Breuil nicht ausreichend in Betracht gezogen und zum anderen nicht erkannt, wie wichtig es ist, zusammenzuarbeiten. War es auch das Hauptanliegen der Arche, Menschen mit einer geistigen Behinderung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, so galt es doch zugleich, sich in die vorhandene Dorfgemeinschaft einzugliedern.
     
    Die Erfahrung hat bestätigt, wovon man beim Verein Simon de Cyrène von vornherein ausging, nämlich dass eine Integration in eine städtische Umgebung sinnvoller ist. Als die ersten Lebensgemeinschaften von Menschen mit und ohne Behinderung entstanden, fing die Integration gleich bei den Bewohnern des Gebäudes an, in dem die Wohnungen geschaffen wurden. Um deren Vorurteile zu zerstreuen, lud man sie von Anfang an herzlich ein, vorbeizukommen und für ein paar Stunden am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen. Zurzeit wird daran gearbeitet, jede Lebensgemeinschaft für Außenstehende zu öffnen.
     
    Regelmäßiger Kontakt mit behinderten Menschen ist hilfreich, um Ängste abzubauen und auf das Andere zuzugehen. Wir sollten uns nicht von dem manchmal etwas irritierenden Bild, das die Behinderung bietet, in die Flucht schlagen lassen. Mit etwas Mut und manchmal einer gehörigen Portion Geduld kann man seine Ängste zerstreuen. Lassen wir uns Zeit. Finden wir uns damit ab, dass unsere Reaktion auf die Behinderung nicht zu unseren wohltätigen Idealen passt. Philippe Pozzo di Borgo erinnert sich daran,

Weitere Kostenlose Bücher