Zigeuner
und Roma vorsitzt, ist Zigeuner eine beleidigende Fremdbezeichnung der Dominanzgesellschaft, mit »rassistischen Zuschreibungen«, die sich »über Jahrhunderte reproduziert, zu einem geschlossenen und aggressiven Feindbild verdichtet haben«. Auch in dem Handbuch Von Antiziganismus bis Zigeunermärchen von Daniel Strauß und Michail Krausnick, heißt es, der »deutsche Begriff Zigeuner« werde als »ein mit Klischees und Vorurteilen belastetes Schimpf- und Schmähwort« von den Betroffenen »besonders heftig abgelehnt«.
Derlei Behauptungen irritieren. Sie decken sich nicht mit meinen Erfahrungen. Sie stellen überprüfbare Fakten auf den Kopf, und sie widersprechen auch den Einsichten, die der Ethnologe Rüdiger Benninghaus gewonnen hat. Etwa bei Spaziergängen über deutsche Friedhöfe. Bis zum Jahr 2011 arbeitete er im Archiv des Kölner Rom e. V., in dem 1999 von dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse eingeweihten Dokumentationszentrum zur Geschichte und Kultur der Roma, wo Benninghaus zu den ersten Adressen zählte, wenn man in Deutschland irgendetwas über die europäischen Zigeuner wissen wollte. Was auch immer irgendwer, irgendwann, irgendwo über sie geschrieben, vertont oder verfilmt hat, die Wahrscheinlichkeit, es bei Rüdiger Benninghaus zu finden, war recht hoch. Von ihm mit zielsicherem Blick durch den Dschungel der Publikationen gelotst zu werden und beim Kaffeeplausch zwischen Bergen von Papieren und Zeitschriften, Büchern und Chroniken erhellende Einsichten zu erlangen, war immer wieder ein Gewinn. So auch der Blick auf seine beeindruckende Fotosammlung von Grabinschriften.
Wenn Zigeuner ein despektierliches Schimpfwort ist und sich die Sinti laut Romani Rose selbst nie so genannt haben, wieso steht auf dem Grabstein des 2007 im Rheinland verstorbenen Josef Demeter »Präsident der Zigeuner«? Warum nennen die Angehörigen den in Koblenz beerdigten Bernhard Chicco Reinhardt Zigeunerbaron? Weshalb trägt der auf einem Friedhof in Frechen ruhende Franz Demeter den Titel Zigeunerbürgermeister? Auch der in Mönchengladbach beigesetzte Zigeunerkommissar Rudolf Goman will nicht so recht in das propagierte Bild derer passen, die die Zigeuner vor Schmähungen bewahren wollen. Und die Sintezza Saura Demeter, die 1988 mit siebzig Jahren als Zigeunerprinzessin in Köln ihre letzte Ruhe fand, schon gar nicht. Künstler wie die 2008 viel zu früh gestorbene Geigenlegende Titi Winterstein, das Schnuckenack-Reinhardt-Quintett oder die Combo des Gitarristen Häns’che Weiss haben ihre Musik unter dem Label »Musik deutscher Zigeuner« veröffentlicht. Und natürlich hat sich Lolo Reinhardt mit seiner Lebensgeschichte Überwintern – Jugenderinnerungen eines schwäbischen Zigeuners nicht selbst beleidigt. Der Sinto erzählt darin von den Leiden seiner Familie unter den Nationalsozialisten, die ihm vieles genommen haben, aber nicht das zigane Selbstwertgefühl. Genauso wenig wie Philomena Franz, der die Nazis in Auschwitz die Nummer Z10550 eintätowierten. Ihre zutiefst berührende Geschichte Zwischen Liebe und Hass trägt den Untertitel: Ein Zigeunerleben. »Ich habe dieses Buch als Zigeunerin geschrieben«, bekundet Frau Franz. »Als Zigeunerin vom Stamm der Sinti.«
Tzigani, Cigány, Zingaros oder Gitanos: ähnliche Bezeichnungen in den europäischen Sprachen, die vermutlich ihre Wurzel in den Athinganoi haben, einer häretischen Sekte von »Unberührbaren«, die bis zum neunten Jahrhundert im heutigen Anatolien lebte. Zudem glaubte man in Europa fälschlicherweise noch bis in die Neuzeit, die Fremden seien ursprünglich Ägypter gewesen. Gypsies eben! Die Verfechter diskriminierungsfreier Terminologie sehen auch darin eine desavouierende Fremdbezeichnung. Während sie meinen, ihre »Sinti und Roma« vor jedweder Beleidigung behüten zu müssen, machten Musiker wie die »Gypsy Kings« ihren Namen zum weltweiten Synonym für Temperament und Lebensfreude. Und die spanische Flamenco-Legende Camarón de la Isla sang »Soy gitano«, leidenschaftlich, trotzig und stolz: »Ich bin Zigeuner!«
In Deutschland drohten ein souveränes Bekenntnis zur eigenen Herkunft und ein uneitler Stolz auf die eigene Ethnie lange Zeit im Schatten der etablierten Opferverbände zu verkümmern. Eine leidenschaftliche und couragierte Gegenstimme verstummte 2012, als mit nur zweiundsechzig Jahren Natascha Winter starb. Sie war die Vorsitzende der Sinti Allianz Deutschland mit Sitz in Köln, eines Vereins, der die »Förderung der
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