Zigeuner
hat nichts mit den Roma zu tun, sondern ist ein Kennzeichen aller mafiösen Strukturen, egal ob im Bettelgeschäft, im Drogen- und Menschenhandel oder im Prostitutionsmilieu. Der Mann unterschätzte die Macht der Furcht.
Radka Inkova hatte Arslan P. bislang nicht angezeigt, nicht weil sie Angst um sich selbst hatte, sondern weil in Stolipinovo ihre jüngste und liebste Schwester lebte. Die sechsjährige Aischa. »Arslan drohte, ihr würde etwas Schlimmes passieren«, erzählte Radka. »Ich bin sicher, er würde Aischa etwas antun. Vielleicht nicht er selber. Aber seine Familie, die in Plovdiv noch andere Mädchen zur Prostitution zwingt. Das sind sehr gefährliche Leute. Arslans Cousins sind auch hier in Dortmund.«
Die Frauen der Mitternachtsmission nahmen sich der schwer misshandelten Radka an. Der gemeinnützige Verein verfügt über anonyme Wohnungen, in denen sich bedrohte Frauen sicher fühlen dürfen. An geheimen und wechselnden Orten war Radka dem Zugriff ihres Peinigers entzogen und schließlich mutig genug, ihm vor Gericht gegenüberzutreten. Es kam zu einem Prozess, in dem weitere Frauen von der Ravensburger Straße als Zeuginnen aussagten, weil sie nicht hinnehmen wollten, wie übel der Kerl ihrer Kollegin mitgespielt hatte. Der Prozess zog sich ein ganzes Jahr hin, und Arslan P. wurde wegen schweren Menschenhandels und gefährlicher Körperverletzung zu vier Jahren Gefängnishaft verurteilt. »Davon saß er, wie in solchen Fällen üblich, die Hälfte der Zeit ab«, weiß Andrea Hitzke. »Dann wurde er nach Bulgarien abgeschoben.« Damit sollte Radka Inkovas Leidensgeschichte eigentlich zu Ende sein. Eine Woche vor unserem Treffen jedoch erhielt sie eine Nachricht von einem anderen Luden aus Stolipinovo, der Arslan bei einem Besuch in Plovdiv getroffen hatte. Arslan wollte 5000 Euro von Radka, als Entschädigung für die Zeit der Haft, und kündigte an, sich das Geld demnächst persönlich holen. Andrea Hitzke wusste Radka zu beruhigen. Es ist unwahrscheinlich, dass Arslan deutschen Boden betreten wird. Er hat Einreiseverbot. Das heißt, würde er in Dortmund gesehen, müsste er sofort die zwei erlassenen Haftjahre antreten. Nach neuesten Informationen soll sich der Zuhälter nun in Österreich aufhalten.
Um den biografischen Hintergrund von Frauen wie Radka Inkova zu verstehen, flog Andrea Hitzke eigens nach Bulgarien. Ihre Erfahrungen decken sich mit meinen. »Das größte Problem in Plovdiv ist der Bildungstand. Eltern schicken ihre Kinder nicht zur Schule. Vor allem keine Mädchen, weil sie nicht einsehen, wem ihre Bildung nützen soll.« In Bulgarien fällt auf, dass junge Roma-Mädchen und -Frauen im Alter bis Mitte zwanzig oft Analphabetinnen sind, während Frauen ab dreißig zumindest etwas lesen und schreiben können. Sie wuchsen als Kinder in der Diktatur unter Todor Schiwkow auf. Und in kommunistischer Zeit herrschte nicht nur Schulzwang, er wurde von dem Staatsapparat auch durchgesetzt. Mit der Wende wurde die Schulpflicht aus falsch verstandener Liberalität von den Behörden nicht mehr kontrolliert. Viele Roma hatten an der Schule kein Interesse, und der gleichgültigen Mehrheit war die Zukunft ihrer Minderheit schlichtweg zu egal, um auf die Durchsetzung regelmäßiger Unterrichtsbesuche zu achten. Bis heute kann Radka Inkova ihren Namen nicht schreiben. Weil sie nie das Lernen gelernt hat, hat sie gerade erst einen Kurs in einer Dortmunder Sprachschule abgebrochen. Der Grund: »Keine Lust.«
Radka erhält Hilfe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, weil sie als Zeugin vor einem deutschen Gericht ausgesagt hat und ohne die Gefährdung von Leib und Leben nicht nach Bulgarien zurückkehren kann. Für ihren Aufenthalt stellt ihr die Stadt Dortmund eine kleine Sozialwohnung zur Verfügung, plus 224 Euro im Monat. Davon kann niemand leben. Aber sich prostituieren, sagt Radka, das will sie nie, nie mehr. Sie kenne das Leben der anderen Frauen. Zudem seien diese Zuhälter-Typen alle gleich. Sodann sagte Radka noch etwas, dass alle Moralisten alt aussehen lässt, die permanent betonen, es sei die Armut, die Frauen aus Südosteuropa auf den Strich treibe. Gewiss ist Armut ein Faktor, der die Prostitution fördert. Aber sie nicht die Ursache. Der Grund, weshalb Frauen aus Plovdiv sich in Dortmund verkaufen, sind einzig und allein Männer. »Keine Frau aus Stolipinovo fährt allein nach Dortmund. Keine! Glaubst du wirklich, wir würden uns freiwillig in Bulgarien in einen Bus setzen? Und dann in
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