Zikadenkönigin
daß es sich um einen Prototyp handelte, doch die Grundstruktur entzückte das Auge.
»Wer fliegt das Ding?« fragte ich.
Solokov hob die Schultern. »Ich«, entgegnete er. »Mein längster Flug dauerte zwanzig Sekunden.«
»Warum so kurz?« Ich blickte in die Runde. »Ich nehme an, daß an freiwilligen Testpiloten kein Mangel herrscht. Ich hätte große Lust, selbst zu einem Probeflug zu starten.«
»Keine Avionik«, murmelte Somps.
Solokov schmunzelte. »Mein Kollege meint damit, daß die Libelle über keinen Bordcomputer verfügt, Mister de Kooning.« Er deutete auf die anderen ultraleichten Maschinen. »Diese Fluggeräte dort sind hochintelligent, deshalb kann jeder sie fliegen. Sie sind benutzerfreundlich, wie man zu sagen pflegt. Sie besitzen einen Sonar, Strömungsdetektoren, Tragflächenkontrollen, eine Überziehwarnanlage und so weiter und so fort. Sie steuern sich beinahe selbsttätig. Die Libelle hingegen ist ganz anders. Sie wird von Hand bedient.«
Du kannst Dir vorstellen, mein lieber MacLuhan, wie sehr mich diese Neuigkeit erstaunte und interessierte. Ohne Computer fliegen? Ebensogut könnte man versuchen, ohne Teller und Besteck zu essen. Mir kam der Gedanke, dieses Unterfangen könne mit einem hohen Risiko behaftet sein.
»Wieso?« fragte ich. »Warum verzichtet man auf die Kontrollen?«
Somps grinste zum erstenmal und entblößte dabei lange schmale Zähne. »Sie sind noch gar nicht erfunden worden. Bis jetzt gibt es für diese Schwingenkinematik keine Algorithmen. Vier auf und ab schlagende Flügel – dieser Vorgang erzeugt einen Auftrieb durch ineinander verwirbelte Strömungsfelder. Sie haben sicher schon Libellen fliegen sehen.«
»Ja?« ermunterte ich ihn zum Weitersprechen.
Solokov spreizte die Finger. »Es ist ein revolutionärer Durchbruch. Herkömmliche Maschinen fliegen mittels einfacher starrer Tragflächen. Sie lassen sich durch einen Computer steuern. Aber sehen Sie, mit den Berechnungen der Interaktionen von vier sich bewegenden Flügeln ist eine Automatik überfordert. Für diesen Mechanismus gibt es keine Programme. Die Computer können keine entsprechende Software erstellen, weil sie die Mathematik nicht kennen.« Er tippte sich an den Kopf. »Nur Marvin Somps kennt sie.«
»Libellen nutzen Störungen im Strömungsfeld aus«, sagte Somps. »Theorien über die kontinuierliche Aerodynamik erklären nicht, warum sich die Libelle in die Luft erhebt. Sämtliche Formen ihrer Fortbewegung lassen sich durch keine noch so komplizierte Mathematik erfassen. Das Insekt vermag in der Luft stillzustehen, kann Richtungsänderungen in jedem beliebigen Winkel und selbst unter hoher Beschleunigung vollführen, es beherrscht den Steilflug, Sturzflug sowie das ruhige Dahingleiten. Mit der konventionellen Lehre der Aerodynamik kommen wir hier nicht weiter.« Er kniff die Augen zusammen. »Das Geheimnis sind instabile, separate Aufwärtsströmungen.«
»Ach«, staunte ich. Ich wandte mich Solokov zu. »Ich wußte gar nicht, daß Sie sich in der Mathematik auskennen, Fred.«
Solokov schmunzelte. »Das ist auch nicht der Fall. Doch vor Jahren machte ich ein Kosmonautentraining mit. Dazu gehörte auch eine Grundausbildung zum Piloten. Ein paarmal mußten wir primitive Flugzeuge ohne Avionik fliegen, nur nach Gefühl, wie man ein Fahrrad fährt. Der Verstand spielt dabei eine untergeordnete Rolle, auf das Nervensystem kommt es an, auf den angeborenen Instinkt. Computer fliegen mit Hilfe ihrer Intelligenz, sie empfinden nichts.«
Ich spürte, wie meine innere Erregung wuchs. Somps und Solokov experimentierten mit den zentralen Wahrheiten unserer modernen Zeit. Gefühl; Stimmungen, Empfindungen, Intuition und Geschmack; dies sind die grundlegenden Elemente, die den Menschen von der oberflächlichen Logik unserer heutigen intelligenzgesteuerten Umwelt unterscheiden. Intelligenz ist billig; der Reiz, etwas aus eigener Kraft zu beherrschen, dafür um so köstlicher. Die Libelle zu fliegen, war keine Wissenschaft, sondern eine Kunst!
Ich wandte mich an Somps. »Haben Sie die Maschine ebenfalls ausprobiert?«
Somps blinzelte und nahm seine Demutshaltung wieder ein. »Ich leide unter Höhenangst.«
Diese Feststellung merkte ich mir. Lächelnd fragte ich: »Aber wie können Sie dieser Versuchung widerstehen? Ich spielte mit dem Gedanken, mir einen der herkömmlichen Gleiter zu chartern, doch nachdem ich diesen Apparat gesehen habe, kann mich nichts anderes mehr reizen.«
Somps nickte. »Ich denke
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