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Zikadenkönigin

Zikadenkönigin

Titel: Zikadenkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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Ihre rückwärts geschrieben wurde.
    Vielleicht wird das Meer wirklich kleiner; dies zu leugnen fiele mir schwer, denn auch ich habe die versteinerten Schiffe von Bahar-Balaama westlich von Kairo mitten in der Wüste gesehen. Doch sollte dies nicht als Einwand gegen die Offenbarung verstanden werden. Als Ihr geistlicher Ratgeber muß ich Sie warnen, alter Freund: Sie sind zu alt, um die sehr wichtige Angelegenheit der Rettung Ihrer Seele noch lange aufzuschieben. Am Ende muß der Glaube triumphieren, und kein sophistischer ›Beweis‹, keine ›Hypothesen‹ oder ›Schlußfolgerungen‹ können Sie jemals retten, wenn Sie sich am Tag des Jüngsten Gerichts rechtfertigen müssen.
    Es sollte mir gar nicht gefallen, wenn die Sammlungen von Steinen und Fossilien, die ich Ihnen schickte, für einen gottlosen Zweck verwendet würden. Dennoch will ich Ihnen ein Geschenk überlassen; und da ich Ihre Vorliebe für das Schnupfen kenne, schicke ich Ihnen etwas Schnupftabak der Eingeborenen, den sie aus einer Reihe eigenartiger Büsche und Ranken gewinnen. Es ist kein richtiger Tabak, aber nach seinem Genuß nehmen Sie das Wort Gottes bereitwilliger, voller freudiger Erregung und Frohlocken auf; deshalb kann ich nicht glauben, daß es etwas Schlechtes sei. Ich schicke Ihnen das kleine Schnupfgerät aus Vogelknochen mit, mit welchem die Leute die Substanz inhalieren, damit Sie es in Ihre Sammlung aufnehmen können.
    Als Gegenleistung bitte ich Sie, ein paar Kerzen für den Seelenfrieden des armen Bérard Procureur abzubrennen; und bitte versuchen Sie, regelmäßig zur Beichte zu gehen. Ich bete für Sie und verbleibe
     
    Ihr alter Freund
    Fr. Gérard le Bovier de Fuillet, S.J.
     
     
    De Maillet lächelte. »Es ist gar nicht schlecht, wenn der Beichtvater in einem anderen Land lebt«, grübelte er laut. Er zog aus dem schweren Umschlag eine zweite, kleinere Hülle, in der etwas raschelte. Er löste die zugeklebte Klappe, und vom Schnupftabak im Paket stieg ihm ein angenehmer, leicht bitterer Duft nach exotischen Kräutern in die Nase.
    Der Geruch löste in de Maillets Kopf eine Kette von Erinnerungen aus: Kegel von schwarzem Weihrauch, die in einer perforierten Silberschale glühten, dunkler Kaffee in einer Porzellantasse, der nackte Oberkörper einer ägyptischen Kurtisane auf einem Brokatkissen. Zusammen mit diesen ungerufenen und angenehmen Erinnerungen entstand in de Maillets Bauch plötzlich ein behagliches, sehr entspanntes Gefühl. Einen Moment lang fühlte er sich beinahe animalisch wohl, ein warmes Aufflackern der schon zu Asche verzehrten Kohle der Jugend.
    Sein Arzt hatte ihm Schnupftabak verboten. Es war schon einige Monate her, daß er seine Nasenlöcher zum letzten Mal anständig gefüllt hatte. Er schielte vorsichtig in das Papierpäckchen. Die feingemahlenen Blätter sahen völlig harmlos aus. Er befingerte den leichten, hohlen Vogelknochen, schob ihn ins Päckchen und schnupfte herzhaft.
    »Au!« rief er, indem er auf die Füße sprang. Seine Brille flog in den Sand. De Maillet hüpfte fluchend um den Pfahl des Sonnenschirms. Aus seinen alten Augen quollen Tränen. Der heidnische Schnupftabak hatte seine Schleimhäute gestochen wie eine zornige Wespe; es schmerzte so sehr, daß er nicht einmal mehr niesen konnte. Er drückte eine altersfleckige, ledrige Hand vor Augen und Wangen.
    Allmählich wich der Schmerz einer eigenartigen Taubheit, die nicht ganz unangenehm war. De Maillet richtete sich auf, dann bückte er sich, um seinen Spazierstock mit dem Silberkopf und seine Brille aufzuheben. Es war schon lange her, daß er sich das letzte Mal so mühelos gebückt hatte. Er setzte sich ohne zu schnaufen auf den Campingstuhl.
    Er bemerkte interessiert, daß seine Sinne geschärft schienen. Wenn er das glatte Elfenbein seines Stocks betastete, schien es ihm, als hätte er ihn noch nie wirklich in der Hand gehabt. Selbst sein Augenlicht schien verbessert. Der blaue Sommerhimmel über dem kristallenen Mittelmeer schien zu schimmern, als wäre er gerade erst erschaffen worden. Jedes Sandkörnchen auf seinen silberbeschlagenen Stiefeln trat deutlich hervor, als wollte es zusammen mit den anderen auf dem schwarzen Leder ein winziges Sternbild formen.
    Er zog gerade in Betracht, auch seinem zweiten Nasenloch eine Prise zu gönnen, als er einen jungen Städter sah, der aus einem felsigeren Bereich der Küste auf ihn zugerannt kam. Es gab hier eine ganze Anzahl verschwiegener Buchten und Höhlen, in welche die jungen

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