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Zikadenkönigin

Zikadenkönigin

Titel: Zikadenkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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eine richtige Frau. Nachdem sie vom Wasser getrennt war, schluchzte sie und raufte sich die Haare, doch sie vermochte keine menschlichen Worte auszusprechen. Dies war im Jahr der Hegira 288 oder im Jahr 842 unserer Zeitrechnung.
    Im Jahr 1430, nach einer großen Flut in der Zuidersee, wurde im Schlamm hinter den Deichen eine Meerjungfrau gefangen. Die guten Frauen von Edam lehrten sie, sich anzukleiden, zu spinnen und das Zeichen des Kreuzes zu machen, womit die Fähigkeiten der Bewohner dieses recht dummen Landes auch schon ziemlich erschöpft waren … später in ihrem Leben versuchte sie mehrmals, zum Wasser zurückzukehren, doch ihre Lungen hatten sich an das Atmen von Luft gewöhnt, und sie konnte es nicht mehr. Genauso war es zweifellos bei unseren fernen Vorfahren, die sich aus dem Meer erhoben und die ersten emporgestiegenen Inseln besiedelten. Nach einer Weile stellten sie fest, daß sie nicht zurückkehren konnten. Ich glaube, daß dies sogar heute noch geschieht. Ich habe die Berichte von wilden Menschen gelesen, von den Orang Utans in Niederländisch-Ostindien, die mit Haar bedeckt sind und die menschliche Sprache nicht sprechen können. Offenbar haben sie noch bis vor kurzer Zeit im Meer gelebt.
    Hin und wieder findet man sogar in Europa Menschen mit Schwänzen. Eine Kurtisane, die ich in Pisa kannte, erzählte mir von einem ihrer Geliebten, der so stark wie mehrere gewöhnliche Männer gewesen sei und schwarzes, dichtes Körperhaar und einen fellbedeckten Schwanz gehabt habe. Zweifellos existiert irgendwo in den uns verschlossenen Tiefen des Meeres eine Rasse geschwänzter Meermenschen. Hin und wieder müssen neue Rassen und Arten aus dem Meer kriechen; wie sonst könnten wir die Flora und Fauna abgelegener Inseln erklären? Doch niemand hat je ein solches Auftauchen beobachtet. Aber wer hat auch schon geduldig Jahr um Jahr das Ufer beobachtet, genau wissend, worauf er achten muß?«
    »Ich glaube, niemand außer Euer Exzellenz könnte besser dazu qualifiziert sein«, sagte Martine. »Ist dies also der Grund für Eure Wache? Erwartet Ihr, daß ein Ungeheuer aus dem Meer steigt?«
    De Maillet lächelte traurig. »Nein, natürlich nicht. Die Chancen, daß ich wirklich einmal Zeuge eines solchen Ereignisses werde, sind unendlich klein, aber was soll ich tun? Meine Beine sind zu schwach und zu gichtig, um in Klippen und Steinbrüchen herumzuspringen, wie ich es in meiner Jugend tat. Jetzt habe ich nur noch meine Augen und meinen Kopf. Selbst wenn in diesem Moment ein Meermensch auftauchen sollte, wäre ich nicht fähig, ihn zu fangen oder zu überwältigen. Aber wenn ich einen sähe, dann wäre ich wenigstens meines Systems sicher – sicherer, als ich es heute bin, obwohl ich in langen Jahren so viele Beweise gesammelt habe. Dann könnte ich im Bewußtsein sterben, daß die Geschichte mich bestätigen wird.«
    Er blickte sehnsüchtig zum Wasser hinaus. »Angenommen, man sieht in diesem Augenblick eine seltsame Bewegung in den Wellen, die unter diesem Wind so seltsam rollen und wogen. Angenommen, man sieht etwas Schaum, der sich dreht und rotiert – ja, genau, wie er es jetzt gerade tut, nur schneller. Er wird schneller, unverwechselbar!« De Maillet stand mühsam auf und deutete mit seinem Stock aufs Meer. »Mein Gott, schaut nur!«
    Der junge Mann starrte zum Meer hinaus. »Ich sehe nichts …«
    »Benutzt Eure Augen, Narr! Seht Ihr nicht, wie sich dieser Wirbel immer schneller dreht und weiter ausbreitet? Am Rand glitzert der Schaum wie Diamanten, und das Wasser ist grün wie … wie alte Bronze oder chinesische Jade oder wie der Glanz eines Insekts in Bernstein oder … oder …« Die Worte verloren sich unter dem plötzlichen Ansturm der Bilder in einem Murmeln. De Maillet deutete benommen mit dem Stock aufs Meer. Der junge Mann betrachtete de Maillet, dann wieder das Meer, dann wieder de Maillet. Plötzlich drehte er sich um und rannte Hals über Kopf über den Strand davon.
    De Maillet ignorierte den fliehenden jungen Mann und machte zwei unsichere Schritte auf die Erscheinung zu. Am Rand des schäumenden Wirbels jagten sich halb durchscheinende Phantome im Kreis herum, immer rundherum um die Mitte des Wirbels in einem Durcheinander von Schichten und Schleiern. Einige Phantome holten sich gegenseitig ein; andere, dunklere Geister bewegten sich träge, als wären sie von ungesunden Gasen der Erde vergiftet; und wieder andere, mit wehendem Haar und rollenden Augen, stießen zuckende Windböen aus den

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