Zikadenkönigin
beschreibt eiserne Ringe, wie sie zum Festmachen von Schiffen benutzt wurden, die hoch droben in den Bergen von Mokatan in der Nähe von Memphis gefunden wurden. Wie sonst könnten wir diese Fossilien erklären, wenn nicht durch die Annahme, daß es einst ein Meer gegeben haben muß, das diese Berge überdeckte?«
De Maillet stach seinen Stock in den Sand. »Daraus folgt nun, daß das Leben sich aus dem Meer erhoben haben muß, und daß einst, als es noch kein Land gab, Geschöpfe wie Seeschlangen, Seeaffen, Seehunde und Seelöwen in den Tiefen umhergeschwärmt sein müssen. Und ebenso muß die Pflanzenwelt des Landes aus Seetrauben, Seesalat und Seemoos entstanden sein.«
»Ich finde das äußerst beunruhigend«, erwiderte der junge Mann. »Denn was ist mit den Menschen? Glauben Sie, daß auch die Menschen aus dem Meer entstanden sind?«
»Wohl wahr, es ist beunruhigend«, sagte de Maillet. »Aber die Beweise, junger Mann; man kann die Beweise nicht ignorieren. Ich muß zugeben, daß ich noch nie Seemenschen gesehen habe. Aber ich habe die Knochen von Riesen gesehen. Vor dreißig Jahren sah ich im Steinbruch von Cap Coronne, nur ein paar Meilen von hier, die Knochen eines Riesen, der, im Stein eingeschlossen, auf dem Rücken lag. Wenn Sie einmal ein solches Wunder mit eigenen Augen erblickt haben, fällt es Ihnen leicht, Ihre Zweifel beseitezuschieben …« Ein seltsames Gefühl kroch de Maillets Wirbelsäule herauf. Er schloß die Augen und spürte unter seinen Schuhsohlen ein eigenartiges Zittern, als hätten sich die Eingeweide der Welt geregt. Als er mit einem zunehmenden Schwindelgefühl die Augen öffnete, bemerkte er ein sehr eigenartiges Phänomen, das er jedoch sofort als optische Täuschung abtat. Es war, als hätte die Hand Gottes eine Scheibe aus gefärbtem Glas vor den Horizont gestellt. Und dann war diese mächtige Scheibe oder diese Mauer aus einem unsichtbaren Stoff aus der Ferne herangerast und an ihm vorbeigezogen. Es war, als hätte diese formlose Wand die tiefsten Tiefen des Meeres durchkämmt, als sei sie durch das Wesen der Erde selbst geglitten, ohne bei ihrem Durchgang auch nur ein leichtes Gekräusel zu hinterlassen, und doch schien nach ihrem Verschwinden alles irgendwie verändert. Er fühlte sich anders, irgendwie angerührt, und spürte ein seltsames Kitzeln, wie er es manchmal kurz vor Gewittern erlebt hatte. Eine seltsame kühle Brise wehte stetig vom Meer herüber. De Maillet hatte den Eindruck, daß dieser Luftstrom den leicht fauligen Geruch frisch aufgeworfener Erde mit sich trug, der von den untermeerischen Tiefen der Welt aufstieg.
Er betrachtete den jungen Mann, der zu seinen Füßen im Sand saß. In dem Händlersohn war irgendeine tiefgreifende, subtile Veränderung vor sich gegangen. Er musterte de Maillet kühn und spekulierend, als wollte er die ganze Welt kaufen und sei bereit, de Maillet als Anzahlung anzubieten. De Maillet sagte schwach: »Habt Ihr nicht gesehen …«
»Was gesehen, Euer Exzellenz?«
»Ein gewisser … ein Blitz, eine Art Wind? Nein? Nein, natürlich nicht.« De Maillet schauderte. »Wo waren wir?«
»Euer Exzellenz haben von Meermenschen gesprochen.«
»Meermenschen.« Obwohl es eins seiner Lieblingsthemen war, klang das Wort in de Maillets Ohren plötzlich seltsam, als sei es in einem einzigen Augenblick um Jahrtausende gealtert, und als sei es jetzt nur noch eine verstaubte, völlig lächerliche Erinnerung aus einer fernen Vergangenheit. Hatte er wirklich einmal an Meermenschen und Meerjungfrauen geglaubt? Doch, er mußte an sie geglaubt haben, denn er hatte ihnen in seinem Meisterwerk ein ganzes Unterkapitel gewidmet.
»Ah, ja, Meermenschen. Ich habe noch nie einen gesehen, aber ich habe viele Hinweise von Autoren gesammelt, deren Glaubwürdigkeit außer Zweifel steht. Die Berichte von alten Autoren wie Plinius, der von flötespielenden Dreizackträgern schreibt, müssen wir wohl aussondern; sie waren allzu leichtgläubig.
Also lassen wir die Altweibergeschichten beiseite und halten uns streng an die Tatsachen. Ich habe die Werke von al-Qaswini, dem berühmten arabischen Schriftsteller, im Original gelesen. In seiner Erzählung von den Reisen Salims, des Gesandten Kalif Vatheks von den Abassiden, erwähnt er die Fahrt eines Fischerbootes auf dem Kaspischen Meer, bei welcher eine Meerjungfrau wohlbehalten aus dem Bauch eines riesigen Fisches gerettet wurde. Sie war nicht halb Fisch und halb Frau, wie man allgemein irrtümlich glaubt, sondern
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