Zikadenkönigin
Galane aus Marseille ihre Geliebten oder jene jungen Frauen entführten, mit denen sie ein solches Verhältnis zu beginnen wünschten. Der Fremde war ein hübscher Kerl, dem Aussehen nach ein Händler, mit einem von Windpocken leicht entstellten Gesicht.
»Habt Ihr einen Hilfeschrei gehört?« verlangte der junge Mann zu wissen, indem er im breiten Schatten unter de Maillets Sonnenschirm stehenblieb.
»Mein Wort«, sagte de Maillet peinlich berührt. »Ich fürchte, ich selbst habe gerufen. Ich habe … äh … manchmal Schwierigkeiten mit meinem Rheumatismus. Ich wußte nicht, daß jemand in Hörweite war.«
»Nein, Ihr könnt es nicht gewesen sein, mein Herr«, erwiderte der junge Mann ganz sachlich, während er seinen Hemdschoß in die Hose steckte. »Auf den Schrei folgte ein Schwall höchst schrecklicher Flüche, die in einer fremden Sprache ausgerufen wurden. Meine Begleiterin ängstigte sich so sehr, daß sie auf der Stelle floh.«
»Oh«, sagte de Maillet. Plötzlich mußte er lächeln. »Nun, vielleicht war es eine Gruppe von Seeleuten. Meine Augen sind nicht mehr die besten. Vielleicht habe ich sie übersehen.«
Der junge Mann grinste. »Ach, dann ist es gut. Frauen wollen, nachdem es sein natürliches Ende gefunden hat, ein Rendezvous gern noch verlängern.« Sein Blick fiel auf de Maillets Gehstock, ein Geschenk der Stadtväter von Marseille. »Vergebt mir«, sagte der junge Mann. »Seid Ihr nicht der Herr de Maillet, der berühmte Wissenschaftler?«
De Maillet lächelte. »Ihr wißt doch, daß ich es bin. Ihr habt gerade meinen Namen vom Stock abgelesen.«
»Unfug«, widersprach der junge Händler heftig. »Jeder weiß auch so, wer Monsieur de Maillet ist. Marseille verdankt Euch seinen Wohlstand. Mein Vater ist Jean Martine von der Martine Oriental Import-Export Company. Ich bin sein ältester Sohn, Jean Martine der Jüngere.« Er verneigte sich. »Er hat oft von Euch gesprochen. Meine Familie ist Euch zu großen Dank verpflichtet.«
»Ja, ich glaube, ich kenne Euren Vater«, sagte de Maillet großmütig. Er liebte es, wenn man ihm schmeichelte. »Er handelt mit ägyptischen Waren, nicht wahr? Pech, Antiquitäten und so weiter.« De Maillet zuckte mit jener Gleichgültigkeit, die Aristokraten so gern an den Tag legen, die Achseln.
»Genau der«, sagte Martine. »Wir hatten einige Male die Ehre, Euer Exzellenz mit Kuriositäten für Euer berühmtes Kabinett von Naturwundern zu beliefern.« Er zögerte. »Ohne aufdringlich sein zu wollen, Euer Exzellenz, ich bin doch erstaunt, Sie hier an diesem verlassenen Strand allein anzutreffen.«
De Maillet blickte dem Händler ins offene, arglose Gesicht und spürte den natürlichen Drang des Alten und Gelehrten und Geschwätzigen, einen Jüngeren aufzuklären. »Das hat mit meinem System zu tun«, sagte er. »Mein Lebenswerk im Bereich der Naturphilosophie, auf welches sich ein großer Teil meines posthumen Ruhmes stützen wird. Viele Jahre lang habe ich auf meinen Reisen Meeresufer erforscht und die Geschichte der Welt studiert, wie sie von den Felsen offenbart wird. Ich bin der Ansicht, daß der Meeresspiegel fällt, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die ich bei etwa drei Fuß pro Jahrtausend ansiedeln würde. Ich habe in meinem Leben zahllose Beweise für dieses Absinken gefunden, und ich glaube es ohne den Schatten eines Zweifels bewiesen zu haben.«
»Sehr bemerkenswert«, sagte Martine langsam. »Aber Sie sitzen doch gewiß nicht hier, um dem Meeresspiegel beim Fallen zuzusehen.«
»Nein«, sagte de Maillet, »aber bei schönem Wetter komme ich oft hierher, um über die alten Zeiten nachzudenken, meine Aufzeichnungen und Tagebücher durchzusehen und die Kette meiner Schlußfolgerungen zu erweitern.
Wenn Sie zum Beispiel einräumen wollen, daß die Meere kleiner werden, dann folgt daraus unmittelbar, daß es einst eine Zeit gegeben haben muß, vor vielen Jahrtausenden, in welcher die ganze Erde vom Meer bedeckt war. Und dies läßt sich tatsächlich recht einfach beweisen. Ich habe die Sammlung von Herrn Scheuchzer in Zürich gesehen; diese Sammlung enthält zahlreiche versteinerte Fische, die glaubwürdige Männer aus den Steinen der schweizerischen Berge schlugen. In den Schriften des Wissenschaftlers Fulgose finden wir sogar die Geschichte eines ganzen Schiffes, das zusammen mit Segeln, Tauwerk und Anker und den Knochen von vierzig Besatzungsmitgliedern etwa hundert Faden tief in einer Erzmine im Kanton von Bern gefunden wurde. Herodot
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