Zikadenkönigin
Mündern. Ihr Aussehen und ihre Bewegungen zeigten, daß sie bewußtlose Dinge waren, bloße Dienstboten und Herolde des Geschöpfes, das noch kommen würde.
Immer mehr Luftgeister wurden von irrsinnigen Wirbeln des jadegrünen Mahlstroms ausgespuckt; zuerst bloße Schaumkleckse, doch dann, während sie in Kreisen hochflogen, nahmen sie Gestalt an und verdichteten sich vor de Maillets erstaunten Augen zu einer langsam kreisenden Säule unirdischer Wesen. Wie eine brodelnde Wolke hetzten sie über den völlig leeren Himmel.
Aus den Tiefen des Mahlstromes stach ein trübgrüner Lichtbalken hervor, und ein neues Wesen, weiblich und erheblich größer als die anderen, begann aus dem Kern des Wirbels aufzusteigen. Sie erhob sich langsam und majestätisch vom Meeresgrund und drehte sich wie ein verzückter Derwisch um sich selbst: Eine Dunkle Frau, deren Haut die Farbe von Schiefer hatte, und deren schwarzes, feuchtes Haar wie nasser, klebriger Tang oder Seegras aussah. Sie war nackt, doch sie verbarg die geheimen Teile ihres Körpers mit einer vor die Brust gelegten Hand und einer geringelten Masse von Haar, das bis zu ihrer Hüfte hinunterfiel. Als sich ihre Knie und Fesseln über den Wasserspiegel erhoben, wurde der Wirbel langsamer und verschwand schließlich, bis ihre nackten Füße auftauchten, die in den Perlmuttschalen einer gewaltigen Muschel steckten.
Beeindruckt von der Majestät dieser dunklen Riesin ließ de Maillet sich unter Schmerzen auf ein Knie fallen. Die Dunkle Frau öffnete die Augen; sie waren von der gleichen Farbe wie das Wasser des Wirbels, ein uraltes, dunkles Grün.
Zwei der Windgeister gaben der Dunklen Frau einen langen Mantel oder einen Schleier, den sie aus ihren eigenen, unfaßbaren Körpern woben. Als der Schleier ihre dunklen Schultern berührte, bekam er gleichzeitig Gewicht und Substanz und verwandelte sich wie durch Zauberhand in einen Umhang, der mit beängstigenden Symbolen bestickt war: Greife, der Vogel Rock, Kraken, einäugige Ungeheuer und andere Fabelwesen.
Die geschwungenen Lippen der Dunklen Frau öffneten sich ein wenig. »Ich grüße dich, Philosoph.«
Als er hörte, daß sie ihn kannte, verschwand de Maillets Erstaunen wie durch Zauberhand, und sein Herz war sogleich wieder von seinem alten, störrischen Mut erfüllt. Er kam mit Hilfe seines Stocks auf die Füße und brachte eine steife, höfliche Verbeugung zustande. »Ich wünsche Euer Hoheit einen guten Tag«, sagte er.
Die Dunkle Frau lächelte das seltsame, rätselhafte Lächeln, das man auf den ältesten Statuen Griechenlands und Ägyptens sehen kann. »Du kennst meinen Namen?«
»Ich weiß, daß du die Dunkle Frau aus dem Meer bist; dies muß dein Titel sein, denn es kann nicht zwei von deiner Art geben.«
»Ah«, sagte sie, »alter Philosoph, du hast deine Klugheit nicht verloren. Mag sein, daß du mir jetzt schmeicheln willst, nachdem du mir in deinem langen Leben so viele schwere Verletzungen zugefügt hast. Wir sind alte Feinde, du und ich. Du hast mich viele Male gesehen und dein Wissen aus meinem dunklen Reich gestohlen. Du hast dein System aufgebaut, um mich zu verletzen. Und jetzt sollst du mich in Fleisch und Blut sehen.« Die Dunkle Frau schloß und öffnete die Augenlider und blickte ihn mit ihrem schlangengrünen Blick an.
»Höre, Philosoph!« rief sie. »Dies ist der Tag der Tage, an dem die große Woge der Veränderung über die Welt zieht, und mit ihr wird der Geist der Zeit – was heißen soll, das Bewußtsein der Menschen – für immer transformiert. In diesem ehrfurchtgebietenden Augenblick sind die ehernen Gesetze von Notwendigkeit und Schicksal, die sonst diese Welt regieren, aufgehoben. Die dunklen Wesen und Geister, welche diese Existenzebene regierten, dürfen ein letztes Mal auf Erden wandeln.«
De Maillet sagte: »Ich habe einmal gelesen, daß die Menschen in ihren letzten Tagen manchmal verborgene Wahrheiten erkennen und prophetische Visionen haben. Heißt das, daß ich sterbe?«
»O Sterblicher, die ganze Welt liegt im Sterben, und eine neue wird geboren: Eine Welt, die von dir selbst und den anderen deiner Art zum Leben erweckt wurde. Es wird eine ödere, kältere Welt, in welcher eine grimmige, gnadenlose Erleuchtung die warmen, verträumten Legenden, Dogmen und Romantizismen aus den Köpfen der Menschen brennen wird.«
»Aber mein System«, rief de Maillet. »Wird mein System in der neuen Welt der Klarheit und des Lichtes triumphieren? Wird mein Name nicht vergessen
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