Zikadenkönigin
werden? Werden mich die Beweise bestätigen?«
Die Dunkle Frau lachte laut und zeigte ihm eine graue Mundhöhle voller scharfer, gezackter Zähne. »Du bittest mich um eine Prophezeiung? Ich bin die Mutter der Phantasien, die Mutter von Glaube, Hoffnung und Kirche.«
De Maillet starrte sie an und hielt schützend seinen Elfenbeinstock vor die Brust. »Du bist die Ignoranz.«
»Das bin ich«, sagte die Dunkle Frau. »Also bitte mich um keine Gefälligkeiten, du, der du mich in der ganzen Welt verfolgt und belästigt hast; du, der du durch deine gelehrten Bücher und das Vorbild deines Lebens mich auch nach dem Tode noch belästigen wirst. Frage lieber nach meinen Töchtern, wenn du schon fragen mußt.«
Die Dunkle Frau machte eine Geste mit ihrer schiefergrauen Hand, und drei verrückte Schwestern sprangen vor de Maillets Füßen aus dem Sand.
»Ich bin der Glaube«, sagte die erste Schwester. »Ich bin die, welche in den Geist der Menschen eintritt, wenn die Kraft seiner Vernunft erschöpft ist, wenn er sich störrisch an seine eigenen Wünsche und ehrgeizigen Ziele klammert und an sie glaubt, weil er fürchtet, verrückt zu werden. Du hast mich aus deinem Kopf und mit deinen Büchern auch aus den Köpfen mancher anderer Menschen vertrieben; aber ich werde weiterleben, solange es Unwissenheit und Furcht gibt.«
»Warum scheinst du dann so bedrückt?« sagte de Maillet. »Und warum ist dein Gesicht so bleich?«
»Oh, Gelehrter, du hast mich verwundet. In der neuen Zeit, die nun heraufdämmert, wird es auch anderen möglich sein, ohne mich zu leben, wie du es schon getan hast. Du und deine Brüder, ihr mit den Augen, die alles sehen und nichts fürchten, ihr werdet mich in eure Kataloge und Abhandlungen aufnehmen und mich mit scharfen Argumenten und skeptischer Logik bezwingen. Deshalb zittere ich und vermag deinen Blick nicht zu ertragen.«
»Aber was wird aus meinem System, Geist? Wird es für wahr befunden werden?«
»Du mußt glauben, daß es so kommen wird«, sagte der Glaube und versank im Sand.
Die zweite Schwester trat vor ihn. »Ich bin die Hoffnung«, sagte sie anklagend, »und auch ich werde schwer verwundet werden. Ich werde nicht mehr die große, blinde Hoffnung auf Erlösung sein. Nur winzige Fragmente von mir werden bleiben: Hoffnung auf Macht, auf Reichtum oder irdischen Ruhm, oder einfach Hoffnung auf ein Ende der Schmerzen. Diese kommende Zeit wird nicht die Zeit großer Hoffnungen sein. Vielmehr wird es Pläne geben, Voraussagen, Theorien und Hypothesen, denn die Menschen werden ihr Schicksal selbst in die Hände nehmen und nur sich selbst die Schuld oder den Ruhm dafür anrechnen. Ich werde nicht völlig vernichtet werden; aber du wirst mir meine Pracht rauben.«
»Aber was wird mit meinem System, Geist? Du, deren Augen immer auf die Zukunft gerichtet sind? Wird mein Werk überdauern?«
»Du mußt hoffen, daß es überdauern wird«, sagte sie und verschwand im Sand.
De Maillet wandte sich an den Geist der Kirche. »Du hättest mein sein sollen!« sagte die letzte Schwester, indem sie mit einem knochigen Arm, dessen Hand am Gelenk abgetrennt war, auf ihn deutete. Die Augen der Erscheinung hinter dem Schleier waren fest geschlossen. »Wenn nicht von meinen Theologen, dann hättest du von mir verbrannt werden sollen!«
»Ich habe mich nie gegen dich gestellt«, erwiderte de Maillet. »Jedenfalls nicht öffentlich.«
»Aber deine Logik hat mir die Hände abgeschlagen!« klagte der Geist. »Deine Nachkommen in den Tagen, die jetzt anbrechen, werden schreien: ›Zerschmettere dieses ungeheuerliche Ding!‹ Sie werden mich verhöhnen, sie werden mich zu etwas machen, das von frei denkenden Menschen gescheut werden muß.
Dein Herz war nicht mein, Philosoph. Es gehörte der Wissenschaft und dem weltlichen Ruhm. Jedesmal, wenn du die flammende Hölle verachtet und angezweifelt hast, wurden die Flammen etwas kleiner. Indem du seine weltlichen Maschinerien entdecktest, hast du den Gott der Propheten zu einem Gott der Uhrmacher verkommen lassen, zu einem gespenstischen Mechaniker. Die Dämonen, die in Wüsten lauern; die Geister von Wäldern und Tälern; die Legionen von Geistern und Engeln, alle, alle werden in erbarmungslosem Licht vergehen!
Nie wieder werde ich die Seelen der Gläubigen sammeln, auf daß sie bestraft und gerichtet werden. Wenn die große Veränderung geschehen ist, wird es keine Seelen mehr geben. Der Mensch wird nicht mehr sein als ein kluges Tier, geboren aus den Lenden von
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