Zikadenkönigin
O'Beronne erwachte und begann zu kreischen.
James rollte ihn vor die geschwärzten Fenster. »Alter Mann«, keuchte er. »Wie lange haben Sie keine frische Luft mehr bekommen?« Er trat die Tür auf.
»Nein!« schrie O'Beronne. Er schirmte mit beiden Händen seine Augen ab. »Ich muß drinnen bleiben! So verlangt es die Regel!« James rollte ihn auf den Gehweg hinaus. Als das Sonnenlicht ihn traf, heulte O'Beronne verängstigt auf und wand sich heftig. Staubwolken pufften aus seinen Kissen, und die Verbände flatterten. James riß die Autotür auf, hob O'Beronne hinein und ließ ihn auf den Beifahrersitz fallen. »Das können Sie nicht machen!« kreischte O'Beronne. Seine Mütze flog ihm vom Kopf. »Ich gehöre hinter Mauern, ich kann nicht in die Welt hinausgehen …« James knallte die Tür zu. Er rannte herum und setzte sich ans Steuer. »Es ist gefährlich hier draußen«, wimmerte O'Beronne, als der Motor zum Leben erwachte. »Ich war da drinnen sicher …«
James gab Gas. Das Auto fuhr mit durchdrehenden Reifen an. Er blickte in den Rückspiegel und sah ein Publikum von lachenden, johlenden Prostituierten. »Wohin fahren wir?« sagte O'Beronne schwach.
James raste mit durchgetretenem Gaspedal über eine gelbe Ampel. Er langte mit einem Arm zum Rücksitz und riß eine Dose aus dem Sechserpack. »Wo war die Abfüllanlage?«
O'Beronne blinzelte unsicher. »Das ist schon so lange her … Ich glaube, in Florida.«
»Florida klingt gut. Sonne, frische Luft …« James fädelte sich energisch durch den Verkehr und knackte eine Dose mit dem Daumen. Er nahm einen großen Schluck und gab die Dose an O'Beronne weiter. »Hier, alter Mann. Trink aus!«
O'Beronne starrte die Dose an und leckte sich die trockenen Lippen. »Aber das darf ich doch nicht. Ich bin der Inhaber, kein Kunde. Ich darf das einfach nicht tun. Mir gehört der Zauberladen, ich sagte es Ihnen doch.«
James schüttelte lachend den Kopf.
O'Beronne zitterte. Er hob die Dose mit seinen Gichtfingern und begann gierig zu schlucken. Er hielt einmal inne, um zu rülpsen, dann trank er weiter.
Maidüfte erfüllten das Auto.
O'Beronne wischte sich den Mund ab und zerdrückte die leere Dose mit der Faust. Er warf sie über die Schulter nach hinten.
»Da hinten ist auch Platz für die überflüssigen Verbände«, sagte James zu ihm. »Auf geht's!«
Originaltitel: ›The Little Magic Shop‹
Copyright © 1987 by Davis Publications, Inc.
(erstmals erschienen in »Isaac Asimov's Science Fiction
Magazine«, Oktober 1987)
Copyright© 1990 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Langowski
Die Blumen von Edo
Herbst. Ein blasser Vollmond schwebte über dem alten Edo, verhüllt nur von zartem Dunst. Der perlmuttene Schein war wie das matte Licht einer Geishalampe, das durch ein altes Moskitonetz filterte.
Zwei schwitzende Läufer zogen eine mit eisernen Rädern ausgestattete Rikscha nach Süden, in Richtung Ginza. Dies war der Kabukiza-Distrikt, und niedrige, mit hölzernen Schindeln gedeckte Läden säumten die Straßen: Küfer und Böttcher, Tabakverkäufer, Händler, die billiges Tuch anboten; der beißende Geruch von Färbemitteln drang durch Riedvorhänge und Papierfenster. Hinter den Geschäften erstreckte sich ein Labyrinth aus dicht an dicht stehenden Hütten und Baracken. An den Holzwänden bildeten Kletterpflanzen girlandenartige Muster, und Fliegen schwirrten über den trockenen Strohdächern.
Es war spät. Im Kabukiza-Distrikt gab es keine Geishas, und die Leute, die sich mit ehrlicher Arbeit ihr Brot verdienten, schliefen bereits. Die schmutzigen Straßen wurden nur vom Mondschein und den wenigen Lampen erhellt, die neben Aufgängen hingen. Die beiden Läufer hatten ihre eigene Laterne bei sich, die an dem Zugbalken der Rikscha hin und her schwankte. Im kräftesparenden Laufschritt trotteten sie dahin und wichen den tiefsten Schlaglöchern und den größten Pfützen aus. Immer dann, wenn sich das Gefährt von einer Seite zur anderen neigte, läuteten die kleinen Messingglocken am Schutzdach.
Plötzlich knirschten die eisernen Räder über glattes Steinpflaster. Sie hatten das Neue Ginza erreicht, und hier konnte man den seltsamen und fremdartigen Geruch von Mörtel und Ziegelsteinen wahrnehmen.
Das erstaunliche Neue Ginza war auf der Asche des Alten Ginza entstanden. Die Blumen vom Edo hatten dem Alten Ginza den Tod gebracht. Von allen Feuern der Meiji-Ära war
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